Als ich im Jahre 2004 das erste und 2011 das zweite Mal die Diagnose „Asperger-Syndrom“ erhalten hatte, war die Begrifflichkeit rund um den österreichischen Psychiater Hans Asperger, der das Syndrom als erstes beschrieben haben soll, noch ausgesprochen positiv besetzt. Die meisten autistischen Menschen hatten sich noch 2011 positiv mit der Bezeichnung identifizieren und mitunter sogar Selbstwert daraus schöpfen können. Viele bekamen durch die Etikettierung „Aspie“ auch eine Art von Gemeinschaftsgefühl und Gruppenzugehörigkeit.
Seitdem hat sich die öffentliche Wahrnehmung um den Begriff „Asperger“ stark gewandelt und nicht wenige Autisten weisen eine entsprechende Bezeichnung entschieden zurück. Grund dafür ist (neben der Neudefinition von Autismus als Spektrum), dass nach neueren Erkenntnissen eine Beteiligung des Kinderarztes am Nationalsozialismus, bei welcher er als „lebensunwert“ eingestufte Kinder hat töten lassen, sehr wahrscheinlich ist.*1 Insofern ist es nur verständlich, dass autistische Menschen weder nach einem „Nazi benannt“ werden wollen, noch dass die Aktivitäten Aspergers durch die Benennung eines Syndroms nach seinem Namen geadelt werden sollen.
Trotzdem gibt es gute Gründe dafür, in der Diskussion um den Begriff eine gewisse Zurückhaltung zu üben und allenfalls maßvoll vorzugehen, wenn die Verwendung und Verbreitung bekämpft werden soll. Die Debatte hat sich inzwischen so weit verschärft, dass man in den sozialen Medien mit Zurechtweisungen oder gar Beschimpfungen rechnen muss, wenn man als Betroffener seine Diagnose nennt oder nur auch aus einem Buch zitiert, welches das Wort „Asperger“ im Namen trägt. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass das eigentlich medizinische Thema Autismus inzwischen von diversen Gruppierungen politisch vereinnahmt wird.
Warum wir den Begriff „Asperger“ nicht verteufeln sollten
Trotz aller Kritik sollte die Verwendung des Begriffs nicht pauschal verteufelt werden. Damit sage ich nicht, dass ich die nationalsozialistischen Aktivitäten Aspergers verteidige oder herunterspielen will. Ich verstehe die vorgebrachte Kritik und bin persönlich der Meinung, dass der Begriff in Zukunft weniger verwendet werden sollte. Gegen eine pauschale Verächtlichmachung des Begriffs sprechen jedoch mehrere Gründe, welche ich hier vorbringen möchte:
1) Das „Asperger-Syndrom“ ist auch heute noch eine der am meisten vergebenen Autismus-Diagnosen. Zwar ist häufiger davon zu lesen (meistens von Laien), dass die Diagnose „Asperger-Syndrom“ veraltet wäre oder gar „abgeschafft“ worden sei, das ist aber faktisch nicht korrekt. Zum einen hat der ICD-10 weiterhin seine Gültigkeit und wird jährlich neu überarbeitet, die Vorabfassung für das Jahr 2025 ist bereits jetzt online abrufbar.*2 Auch das „Asperger-Syndrom“ ist dahin weiterhin enthalten. Da es bis heute zudem keine gültige deutsche Übersetzung für den ICD-11 gibt, arbeiten die meisten Diagnostiker auch weiterhin mit dem ICD-10.
2) Viele Personen, welche den Begriff „Asperger“ auch heute noch benutzen, tun dies, da sie für sich oder ihr Kind kürzlich eine entsprechende Diagnose erhalten haben und akute Hilfe suchen. Es ist weder angebracht noch hilfreich, diesen Menschen nun vorzuhalten, sie verwendeten „Nazi-Sprache“ oder die erst kürzlich von einer Fachperson festgestellte Diagnose wäre bereits veraltet. Ich bin davon überzeugt, dass ein solcher Umgang nur Verwirrung stiftet und dazu geeignet ist, die Krise der Hilfesuchenden noch zu verschlimmern. Zudem sollte bedacht werden, dass das „Asperger-Syndrom“ allem voran eine medizinische Diagnose darstellt und nicht jeder Diagnostizierte zum inneren Zirkel der Autismus-Community gehört oder täglich mehrere Stunden damit zubringt, in Online-Foren über das Thema zu recherchieren.
3) Bei weitem nicht alle lehnen den Begriff „Asperger“ ab, noch nicht einmal jene, welche selbst eine Autismus-Diagnose haben. Eine eigene Erhebung von 2022 hat ergeben, dass lediglich 30% der Befragten den Begriff ablehnen und 70% ihn favorisieren.*3 Zwar ist diese Erhebung sicherlich nicht repräsentativ, doch es kann zweifelsfrei davon ausgegangen werden, dass die oftmals absolute Aussage, „alle“ Autisten oder „die“ autistische Community lehne den Begriff ab, sicherlich nicht haltbar ist. Zudem berichten viele Autisten, dass der Begriff „Asperger-Syndrom“ für sie persönlich sehr positiv konnotiert ist und sie dadurch ein Gefühl von Identität und Gemeinschaft erfahren. Auch findet der Begriff nach wie vor Verwendung in diversen Vereinen und Selbsthilfeorganisationen, wie zum Beispiel dem Aspies.e.V.
Ausblick und Fazit
Ich persönlich verurteile die nationalsozialistischen Aktivitäten Aspergers, welche nach der aktuellen Forschungslage sehr wahrscheinlich sind, zutiefst und vollumfänglich. Ich selbst spreche mich dafür aus, den Begriff „Asperger-Syndrom“ in der Zukunft weniger zu verwenden. Prinzipiell und grundsätzlich sollte von einer reflexartigen Verurteilung des Asperger-Begriffs jedoch abgesehen werden. Schon gar nicht sollten Hilfesuchende, zum Beispiel in den sozialen Medien, für die Verwendung des Begriffs beschimpft oder verunsichert werden. Letztlich ist ein solches Vorgehen meiner Ansicht nach aber auch gar nicht nötig, selbst dann, wenn man den Begriff „Asperger“ scharf kritisiert. Durch die Zusammenfassung der alten Autismus-Diagnosen (Kanner-Syndrom, atypischer Autismus und Asperger-Syndrom) in DSM-V und ICD-11 zu einer „Autismus-Spektrum-Störung“ wird der Begriff ohnehin mit der Zeit aus dem aktiven Sprachgebrauch verschwinden, so wie es einst mit der Bezeichnung „autistische Psychopathie“ geschehen ist. Insofern möchte ich allgemein zur Gelassenheit aufrufen. Hans Asperger wird durch das aktuelle „Begriffs-Bashing“ weder Leid erfahren noch werden seine Taten dadurch ungeschehen. Der momentane Umgang mit dem Begriff ist allerdings sehr wohl dazu geeignet, im Hier und Jetzt Hilfesuchende zu schädigen, zu verunsichern oder Care-Arbeit von Einzelpersonen, Verbänden und Vereinen unnötig zu verkomplizieren, wenn unter jeden noch so gut gemeinten Posting, Video oder Artikel zahlreiche Postings geschrieben werden, dessen einziger Inhalt lautet: „Asperger war ein Nazi!“
Tom Harrendorf ist diagnostizierter Asperger-Autist, Selbsthilfegruppenleiter, selbstständiger Berater und Gründer der Seite autismusspektrum.info. Er veröffentlicht seit 2018 regelmäßig Podcasts und Fachbeiträge zu den Themen Autismus, Borderline und anderen psychologischen Themen. Auf YouTube und anderen Kanälen begeistert er damit aktuell 150.000 Abonnenten.
Quellen:
*1 https://www.meduniwien.ac.at/web/ueber-uns/news/detailseite/2018/news-im-april-2018/aktuelle-studie-hans-asperger-und-die-ns-rassenhygiene [Abgerufen am 28.07.2024]
*2 https://klassifikationen.bfarm.de/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2025-vorab/index.htm [Abgerufen am 28.07.2024]
*3 https://www.youtube.com/@TomHarrendorf/community [Abgerufen am 28.07.2024]
Ich stimme dir zu, dass man vom „Asperger-Syndrom“ heute nur noch sparsam und – sofern vorhanden – im Bewusstsein des historischen Kontextes sprechen sollte.
Trotzdem hat Hans Asperger die ihm anvertrauten Kinder ausgesprochen treffend beschrieben; genauer und nuancenreicher als vieles, was man heute findet. Ich war richtig gerührt, wie gut ich mich selbst (und auch meinen Neffen) in den Beschreibungen seiner Habilitationsarbeit wiedererkannt habe. Aspergers Sprachgebrauch und viele seiner Schlussfolgerungen müssen natürlich historisch eingeordnet werden, das ist heute unerlässlich.
Mir wäre es aus heutiger Sicht auch lieber, das „Asperger Syndrom“ wäre nach einer weniger zweifelhaften Persönlichkeit benannt worden. Trotzdem plädiere auch ich dafür, den historisch belasteten Begriff für die Zukunft nicht rigoros zu tabuisieren, sondern ihn – wo immer möglich…