Mit diesem Beitrag möchte ich dir, lieber Tom, für dein Video auf YouTube vom 8. November 2024 danken, in
dem du über das Thema „Ich bin wegen Autismus schwerbehindert, aber man sagt mir, AS sei keine Behinderung“ sprichst. Mit diesem Video hast du mir in jeder Hinsicht aus der Seele gesprochen!
Bis vor etwa 10 Jahren habe auch ich die zermürbenden Diskussionen in autistischen Communities miterlebt, ob man Autismus als „Behinderung“ oder gar „Störung“ bezeichnen darf. Ich war erschrocken, wie zerstritten sich die Lager teilweise gegenüberstehen. Da gibt es die einen, die unter ihrem Autismus leiden und ihn (im klassisch medizinischen Sinn) als „Behinderung“ oder „Störung“ verstehen, ohne in diesen Begriffen etwas Diskriminierendes zu erkennen.
Demgegenüber steht die politisch-aktivistische Seite der Autismusbewegung, die eng mit der Neurodiversitätsbewegung verknüpft ist. Dort wird Autismus als Normvariante menschlicher Vielfalt betrachtet, die nicht pathologisiert werden darf. Autisten und Autistinnen gelten als diskriminierte Minderheit; Behinderung und Leidensdruck seien das Resultat gesellschaftlicher Barrieren und niemals eine Folge des Autismus selbst. Diese Diskussion soll hier nicht vertieft werden. Klar ist nur: Hier stehen sich zwei fundamental verschiedene Weltbilder gegenüber, die in autistischen Communities für Streitpotential sorgen.
Unabhängig davon kann man nur im Einzelfall entscheiden, ob der Antrag auf einen
Schwerbehindertenausweis begründbar ist und was man sich davon verspricht. Ob sich jemand behindert fühlt (unabhängig von einer festgestellten Diagnose), ist ohnehin etwas sehr Subjektives und muss jedem selbst überlassen bleiben, ohne dass Außenstehende darüber zu werten haben.
Es gibt (höherfunktionale) Autisten, die unter günstigen Umständen aufgewachsen sind, wo man ihren Einschränkungen mit Gelassenheit und Toleranz begegnet ist; wo man sie akzeptiert hat, wie sie sind. Solche Leute brauchen nicht zwangsläufig einen Schwerbehindertenausweis, sofern sie ihre beruflichen und sozialen Nischen gefunden haben. Bis hierhin stimme ich mit den Befürwortern der Neurodiversitätsbewegung überein.
Ich glaube nur nicht, dass solche Autisten die Mehrheit repräsentieren. Viele Autisten, die ich kennengelernt habe, schaffen ohne Unterstützung nicht den Sprung in ein selbstständiges Leben, finden kein soziales Umfeld und keinen Arbeitsplatz, wo man sie akzeptiert, wie sie sind. Für diese Menschen kann ein Schwerbehindertenausweis (mit den einhergehenden Nachteilsausgleichen) alternativlos sein. Dazu muss man stehen dürfen, ohne von der eigenen Community angefeindet zu werden.
Der Schwerbehindertenausweis gibt Sicherheit
Ich selbst – man ahnt es wahrscheinlich – bin froh, dass man mit Autismusdiagnose eine Schwerbehinderung geltend machen kann, sofern konkret belegbare Einschränkungen vorliegen. Meinen Schwerbehindertenausweis habe ich seit über 30 Jahren. Anfangs mit diversen Vorgängerdiagnosen, weil es die Diagnose Asperger-Syndrom Anfang der 1990er-Jahre noch nicht gab. Vor allem für mein berufliches Weiterkommen erwies sich dieser Ausweis später als Gold wert.
Nach einer traumatischen Kindheit (mehrjährige Heimaufenthalte, zerrüttete Familie) musste ich mir als Erwachsener in langwierigen Schritten den Weg in die Selbständigkeit erkämpfen. Bis Mitte 20 bestand mein Leben vor allem aus Abbrüchen, Perspektivlosigkeit, der Versorgung durch meine Mutter und der Inanspruchnahme von Sozialleistungen. Erst mit Ende 20 war ich so stabil, dass ich mir eine Ausbildung im Berufsförderungswerk zutrauen konnte, die mir vom Arbeitsamt bewilligt wurde. Es war eine schwere Zeit, die mich mehrfach an meine Grenzen brachte. Zum Glück bekam ich tolle Unterstützung und es hat sich gelohnt, dass ich durchgehalten habe und die Ausbildung abschließen konnte.
Nach meiner Ausbildung war es der Integrationsfachdienst (IFD), der mir dabei half, mich dem ersten Arbeitsmarkt zuzuwenden. Der IFD unterstützte mich zum Beispiel beim Schreiben von Bewerbungen. Als ich endlich einen Arbeitsplatz hatte, war es die Beraterin vom IFD, die sich bei meinem Arbeitgeber vorstellte und meine Situation erklärte. Das erste halbe Jahr besuchte sie mich regelmäßig in der Firma, sprach mit mir und meiner damaligen Chefin: Was läuft gut und in welchen Bereichen brauche ich mehr Unterstützung?
Heute brauche ich die Begleitung durch den IFD nicht mehr. Dennoch bin ich dankbar, dass ich diese Unterstützung in der Anfangszeit hatte, denn sie war der Ausgangspunkt dafür, dass ich heute in meiner eigenen Wohnung lebe, einen tollen Arbeitsplatz habe, finanziell und versorgungstechnisch unabhängig bin. Mein Schwerbehindertenausweis war die Voraussetzung, damit ich zum richtigen Zeitpunkt passgenaue Hilfen bekam. Eine Begleitung durch den IFD zum Beispiel wäre andernfalls nicht möglich gewesen, da dieser nur für schwerbehinderte Menschen tätig werden darf.
Für mich war der Schwerbehindertenausweis – überspitzt gesagt – der Ausweg aus einem Alltag, der in jungen Jahren nur aus Schwermut, Abbrüchen und „in den Tag hineinleben“ bestand. Wer weiß, wie mein Leben andernfalls verlaufen wäre? Vielleicht wäre ich bis heute von staatlicher Unterstützung abhängig, ohne Ausbildung und Beruf, ohne Selbstbewusstsein und ohne echte Perspektive. Aus authentischer Überzeugung sage ich deshalb: Der Schwerbehindertenstatus ist alles andere als eine Stigmatisierung. Er war für mich ein Schlüssel zur Selbstständigkeit und Unabhängigkeit.
Wer Autisten pauschal den Behindertenstatus abspricht, der spricht ihnen auch das Recht auf genau solche Hilfen ab, verwehrt ihnen die Chance auf Teilhabe und Zugehörigkeit in vielen Lebensbereichen. Warum tun Menschen das? Wahrscheinlich nicht böswillig, aber aus Naivität und Gedankenlosigkeit.
Meine persönlichen Nachteilsausgleiche
Fast 20 Jahre arbeite ich jetzt in meiner Firma und fühle mich dort sehr wohl. Dank meines
Schwerbehindertenstatus bekomme ich Nachteilsausgleiche, ohne die ich auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht bestehen könnte. Es sind es vor allem zwei Bereiche, in denen ich auf Nachteilsausgleiche angewiesen bin:
1. Reduzierte Arbeitszeit
2. Befreiung von Multitasking zur Stressreduktion und Reizminderung
Meine tägliche Arbeitszeit beträgt 6,5 Stunden. Begründet wurde dies unter anderem mit dem erhöhten Grundlevel an Stress, unter dem man als Autist steht. Einziger Wermutstropfen: Als Teilzeitkraft verdiene ich entsprechend weniger. Befreiung von Multitasking bedeutet: Ich bekomme genau eine Aufgabe zugewiesen, die ich bearbeite. Wenn ich diese Aufgabe erledigt habe, gebe ich sie ab und bekomme die nächste. Ablenkungen nach dem Motto: „Kannst du bitte mal schnell was dazwischenschieben?“ sind bei mir nicht erlaubt – das hat meine Chefin dem Kollegium ausdrücklich so erklärt. Ausnahme sind Kurzfragen, die schnell beantwortet sind und mich nicht aus dem Fluss bringen. Zum Beispiel: „Weißt du, wo ich Formular XY finde?“
Diese Nachteilsausgleiche sind mein Überlebensanker in der Arbeitswelt. Der Schwerbehindertenausweis berechtigt mich auch, mit der Vertrauensfrau der Schwerbehinderten zu sprechen, wenn es Probleme gibt, die im Zusammenhang mit meinem Autismus stehen. Er ermöglicht mir, mit meinen Vorgesetzen im Gespräch zu bleiben, unter welchen Bedingungen ich am leistungsfähigsten bin, welche Faktoren mich einschränken oder übermäßig stressen.
Der vielleicht wichtigste Vorteil, den mir mein Schwerbehindertenausweis gibt, ist der weitreichende Kündigungsschutz. Andernfalls hätte ich das Unternehmen möglicherweise nach wenigen Jahren wieder verlassen müssen, denn es gab zwischendurch auch wirtschaftlich schwierige Zeiten mit betriebsbedingten Kündigungen. Abgesehen von meiner Schwerbehinderung hatte ich in diesen Zeiten wenig zu bieten, was in der Sozialauswahl für mich gesprochen hätte: Ich lebe allein, habe keine Familie zu ernähren und war erst wenige Jahre im Unternehmen ‒ also der ideale Kandidat für eine betriebsbedingte Kündigung.
Stattdessen habe ich heute die Verlässlichkeit eines weitgehend barrierefreien Arbeitsplatzes, der mir wahrscheinlich bis zur Rente sicher ist. Kann ich dafür nicht unglaublich dankbar sein? Natürlich gibt es auch finanzielle Vergünstigungen durch den Schwerbehindertenausweis wie Steuererleichterungen oder ermäßigten Eintritt. Das ist aber zweitrangig. Das Wichtigste bleibt, dass der Schwerbehindertenausweis meine „Eintrittskarte“ in die Arbeitswelt war.
Schlusswort
Ich verstehe durchaus die Sorge einiger Autistinnen und Autisten, durch die Konnotation mit Behinderung unnötig stigmatisiert zu werden, im Berufsleben Chancen verwehrt zu bekommen, von Ämtern als „hoffnungsloser Fall“ abgestempelt zu werden und anderes mehr. Niemand wird bestreiten, dass es so etwas gibt.
Dennoch wage ich die These: Wer mit Empörung aufschreit, sobald Autismus mit Behinderung in Verbindung gebracht wird, hat oft selbst ein negatives und vorurteilsbehaftetes Bild von Behinderung. Wenn man nachhakt, warum man Autisten keinesfalls als behindert sehen möchte, bekommt man nämlich oft merkwürdig klischeehafte Antworten, was eine Behinderung angeblich ist, zum Beispiel: Behinderte werden über Defizite definiert, sie werden ausgegrenzt, man traut ihnen nichts zu und sie bleiben unter ihren Möglichkeiten. Wo ich mir denke: Leute, merkt ihr nichts? Das sind oft nur eure eigenen Ängste und Vorbehalte, die ihr nach außen projiziert.
Und ja, es kann sein, dass in einer „besseren Welt“ mit perfekt verwirklichter Inklusion keine
Schwerbehindertenausweise und sozialrechtlichen Sonderbehandlungen mehr nötig wären – weil man behinderte Menschen in einer solchen Welt von vornherein immer und überall so akzeptiert, wie sie sind. Ich kenne dieses Argumentationsmuster und den gut gemeinten Gedanken dahinter. Der Haken ist nur: Eine solche Welt ist utopisch und wird es vielleicht immer bleiben. Meine über 50-jährige Lebenserfahrung hat mich gelehrt, pragmatisch zu denken, vom Ist-Zustand auszugehen und nicht von einem Idealbild. Die Realität ist nun einmal, dass Autisten oft nur mit festgestellter Schwerbehinderung die Hilfen bekommen, auf die sie dringend angewiesen sind.
Mit meinem persönlichen Beispiel möchte ich Mut machen, den Begriff „Schwerbehinderung“ nicht als etwas Bedrohliches oder Einschränkendes zu empfinden, sondern als Chance. Meinen Schwerbehindertenausweis habe ich nie als Stigmatisierung begriffen, sondern als ein sozialrechtliches Instrument, das man so wertneutral wie möglich betrachten muss. Nur dann kann man sich auf das Wesentliche konzentrieren, auf das Vorankommen im eigenen Leben. Diese pragmatische Sichtweise hat mir mehr geholfen als die politisch-aktivistische Einfärbung von allem, was mit Behinderung zu tun hat.
Dario wurde 1972 geboren und bekam seine Autismus-Diagnose im Alter von 39 Jahren. Er arbeitet als Technischer Zeichner und schreibt als Autor für verschiedene Blogs und Portale. Unter anderem schrieb er die Artikel Wenn Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen und „Schlussendlich war ich Täter und Opfer zugleich.“ für die Seite ellasblog.de. Dario ist ledig und alleinlebend.
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