In unserem Buch „Autismus verstehen“ wurde beschrieben, wie Tom Harrendorf, mehrfach diagnostizierter Autist, sich seinen persönlichen Platz in der Gesellschaft erkämpfen und soziale Regeln erlernen konnte. Tom schaffte dies, ohne je von einem „Sozialtraining“ erfahren zu haben, wie es im pädagogisch-therapeutischen Setting angeboten wird. Eine Hilfe stand ihm nicht zur Verfügung. Genau wie viele andere Menschen im Spektrum hatte Tom schon immer Schwierigkeiten, soziale Regeln intuitiv zu verstehen. Dabei hätte er sich oft eine Gebrauchsanleitung oder Soziales Rezeptbuch gewünscht, welches ihm die unterschiedlichen Regeln erklärt. Anlässlich unserer Buchveröffentlichung möchte ich hier eine Checkliste zur Verfügung stellen, welche viele typische Situationen erläutert, mit denen autistische Menschen oftmals Probleme haben und auf welche es zu achten lohnt.
1. Mimik und Gestik identifizieren
Mimik, also Gesichtssprache, sagt viel über den Gefühlszustand eines Menschen aus. Nicht immer zeigen Menschen einen Ausdruck, der konkordant zu dem inneren Erleben ist, aber meistens ist es ein guter Anhaltspunkt, im Gesicht zu „lesen“. Lächelt die Person oder zeigen sich Sorgenfalten auf der Stirn? Es lohnt sich, Gesichter zu studieren, zum Beispiel mit Hilfe von Bildkarten. Auch zur begleitenden Gestik gibt es viele Möglichkeiten des Selbststudiums. Viele Bücher lehren einem die Kunst der Körpersprache.
2. Soziale Regeln beherzigen
Es gibt eine Vielzahl an sozialen Regeln, die man kennen sollte, um mit anderen erfolgreich zu interagieren. Einige sind:
Begrüßung und Verabschiedung anderer: Wer jemanden begrüßt, zeigt ihm Respekt. Er sieht, dass eine andere Person anwesend ist. Dasselbe gilt beim Verabschieden: Auch hier zeigt man, dass man eine Person beachtet und wertschätzt. Wenn Sie kommen und gehen, ohne zu grüßen oder sich zu verabschieden, könnte das auf andere unhöflich und respektlos wirken.
Entschuldigung, Bitte und Danke sagen: Auch das sind Höflichkeitsregeln, die zu beachten eine Interaktion verbessern.
Jemanden ausreden lassen: Eine Person, die andere während des Redens (ständig) unterbricht, wird als selbstbezogen und unhöflich wahrgenommen.
Blickkontakt halten: Für die meisten neurotypischen Menschen ist es wichtig, Blickkontakt zu halten. Sie signalisieren sich dadurch wechselseitiges Interesse und Achtsamkeit. Wer andere nicht anblickt, wirkt unfreundlich, feindselig oder schüchtern, auch, wenn diese Person das überhaupt nicht ist. Wer Probleme mit dem Blickkontakt hat, könnte das vorab äußern, damit andere nicht irritiert sind. Sagen Sie: „Ich kann nicht gleichzeitig zuhören und jemanden ansehen, bitte nehmen Sie mir das nicht übel“. Entweder ist das Thema dann schon vom Tisch, oder man übt, immer mal für circa drei bis vier Sekunden dem Gegenüber in die Augen oder in die Nähe der Augen (Stirn, Nase) zu blicken und den Blick dann wieder zu senken. Dem Gegenüber fällt es in der Regel nicht auf, wenn der Blick etwas abseits liegt. Menschen mögen es, angesehen zu werden. Eine Mischung aus Ehrlichkeit und Übung macht hier, wie auch bei allen anderen Kompetenzen, den Meister. Allgemein sagt man zum Blickkontakt, dass eine Person beim Sprechen circa 50% und beim Zuhören circa 70% der Zeit Blickkontakt halten sollte (die sog. 50/70-Regel). Der Blickkontakt sollte dabei vier bis fünf Sekunden lang gehalten werden.
Empathie und wechselseitiges Interesse: Gerade der Bereich der Empathie ist für Menschen im Spektrum nicht einfach zu erlernen. Empathie ist etwas Intuitives, das sich bei ihnen nicht immer von selbst einstellt. Hier empfiehlt es sich, zunächst einmal die kognitive Empathie (Fähigkeit zur rationalen Erkennung der Zustände anderer Personen, z.B. Gedanken, Wünsche, Intentionen) einzusetzen, um sich gedanklich darüber klar zu werden, was (theoretisch) gerade in einer Person vorgehen könnte. Im Notfall fragen: „Was geht gerade in dir vor?“.
Je häufiger man richtig liegt, umso einfacher wird es zukünftig, die passenden Verhaltensweisen zu zeigen. Je intensiver man im „geselligen“ Miteinander mit anderen ist, umso besser stellen sich auch passende Gefühle ein. Hier gilt: Learning by doing!
Durch die Blume reden: Es hilft, neurotypischen Menschen ehrlich zu sagen, womit man Schwierigkeiten hat. Man könnte zum Beispiel von Anfang an sagen: „Ich nehme Dinge wörtlich. Bitte sage immer genau das, was du meinst“. Gelingt das dem Gegenüber nicht, fragt man nach, ob das Gesagte gerade wörtlich gemeint war oder nicht. Auf diese Weise lernt man auch Formulierungen, die häufig benutzt werden und etwas anderes bedeuten, als sie zunächst ausdrücken. Beispielsweise bedeutet die Frage: „Ist noch Kaffee da?“ meistens: „Ich möchte noch Kaffee trinken“. Dann wäre es für andere irritierend, wenn jemand mit „Ja“ antwortet, ohne dem Gegenüber Kaffee anzubieten.
Kleidungsstil (passend zur Situation): Hier gibt es viele unausgesprochene Regeln, die man nicht befolgen muss, aber kann. In einer Oper kleiden sich die meisten Menschen feiner als am Nachmittag im Park. Ein arrivierter Musiker könnte es als respektlos empfinden, wenn sein Konzert in Jeans und Turnschuhen verfolgt würde. Hier sind die Reaktionen der Menschen aber sehr unterschiedlich.
Wer nicht aus seinem Zimmer und unter Menschen kommt, wird diese Regeln nicht allein durch theoretisches Studium erwerben. Die Praxiserfahrung ist hierbei wichtig.
3. Kommunikation passend einsetzen
Im Bereich Kommunikation lauern viele Fettnäpfchen. Wer nur von sich selbst spricht, andere nicht ausreden lässt, nicht auf den anderen und dessen Gefühle eingeht oder viel zu schnell redet, wird bald keinen Gesprächspartner mehr haben. Folgende Dinge sind also sehr wichtig, wenn man mit anderen Menschen redet:
Ausreden lassen: Wenn eine andere Person spricht, sprechen Sie nicht. Warten Sie, bis die andere Person eine (kurze) Pause macht.
Statt Monologe, Dialoge führen: Stellen Sie Fragen, kommentieren Sie eine Aussage und lächeln Sie ab und zu, während jemand etwas erzählt. Das tut dem Gespräch gut. Es kann sein, dass das Gesagte einen nicht interessiert, aber aus Höflichkeit sollte man zuhören und zumindest einen zugewandten Eindruck erwecken. Wer anderen zuhört, dem hören meistens die anderen auch zu. Man kann sich dann darauf freuen, dass man auch bald wieder dran ist.
Langsam und deutlich reden: Sprechen Sie nicht zu schnell und hektisch, denn dann versteht niemand, was Sie sagen. Machen Sie ab und zu Pausen, damit die andere Person vielleicht eine Nachfrage zu Ihren Ausführungen stellen kann.
Ehrlichkeit: Nicht immer muss man offen sagen, was man denkt. Wenn jemand erzählt, dass er in einer aufregenden Stadt gewesen ist, ist es nicht hilfreich zu erwähnen, dass diese Stadt eine hohe Kriminalitätsrate hat oder einen unfähigen Bürgermeister. Das mag stimmen, tut aber in diesem Gespräch nichts zur Sache, weil die sprechende Person eine aufregende Zeit dort hatte, um die es ihr hier gerade geht. Und sie möchte dieses schöne Erlebnis mit jemandem teilen – und nicht auf negative Fakten hingewiesen werden. In einer solchen Situation wollen Menschen mit anderen Menschen eine gute Zeit haben, weshalb es hierbei nicht um tiefschürfende und komplizierte Gedanken geht. Wenn Sie diskutieren oder sich über Fakten austauschen wollen, dann sollten Sie sich mit Gleichgesinnten zu entsprechenden Anlässen treffen. In einem „normalen“ Smalltalk geht es um gute Gefühle, ein lockeres Miteinander und nicht um Debatten oder Genauigkeit bei Fakten.
Emotionale Gegenseitigkeit: Bleiben Sie immer bei dem, was die andere Person erzählt oder zumindest „in der Nähe“ dessen. Redet die Person von aufregenden Kunstausstellungen oder großartigen Partys, dann lenken Sie nicht auf das Thema Politik. Die Person fühlt sich dann im Gespräch nicht berücksichtigt, sondern eher missverstanden. Im schlimmsten Fall wendet sie sich einem anderen Gesprächspartner zu. Reden Sie nicht nur von Ihren Interessen, sondern gehen Sie auch auf die der anderen Person ein.
Ein Gespräch ist ein „Hin und Her“ an Wortbeiträgen. Beide Teilnehmer sind zu gleichen Anteilen zu beteiligen und die Stimmungen sollten im Idealfall genauso miteinander schwingen wie ein Tanzpaar auf der Tanzfläche. Auch beim Tanz werden Bewegungen aufeinander abgestimmt, um elegant und stolperfrei miteinander zu funktionieren.
4. Abschließende Bemerkungen
Die unglaubliche Geschichte von Tom Harrendorf zeigt, wie wichtig das Erlernen und Anwenden sozialer Regeln ist, um ein gelungenes Leben mit anderen führen zu können. Dies hatte er, heute 37 Jahre alt, selbst immer wieder betont. Sozialverhalten ist dabei eine komplexe Angelegenheit, die auch neurotypische Menschen nicht immer korrekt beherrschen. Auch unter ihnen gibt es schüchterne, ängstliche, introvertierte oder impulsive Charaktere. Alle Menschen machen im Sozialverhalten Fehler. Die Gewalt, welche Tom auf seinem Lebensweg angetan wurde, ist durch nichts zu entschuldigen. Doch gerade deshalb ist es wichtig (für alle Seiten) soziale Fehler auch zu erkennen und ihnen notfalls entgegenzusteuern. Wer seine Schwächen kennt und benennen kann, zieht außerdem Sympathien auf sich. Vor allem die „Basics“ wie Freundlichkeit, Bitte, Danke, Entschuldigung oder eine Begrüßung und Verabschiedung sind für ein positives Miteinander von großer Bedeutung.
Toms 10 Prinzipien für ein besseres Leben (mit Autismus) sowie seine ganz persönliche und teils unfassbare Lebensgeschichte sind ab sofort auf Amazon und überall im Buchhandel erhältlich.
Melanie Matzies-Köhler ist Diplom-Psychologin und arbeitet freiberuflich als Fachberaterin für Autismus. Sie ist als Therapeutin, Dozentin und Autorin im Bereich Autismus tätig. Folgende Bücher hat sie bereits veröffentlicht: Autismus: Adlerblick und Tunnelsicht. Tipps für Kids, Adlerblick & Tunnelsicht 2: Tipps für Lehrer, Meine Brücke zu dir: Menschen inner- und außerhalb des autistischen Spektrums im Dialog, Sozialtraining für Menschen im Autismus-Spektrum (AS): Ein Praxisbuch, Colines Welt hat tausend Rätsel: Alltags- und Lerngeschichten für Kinder und Jugendliche mit Asperger-Syndrom
Alles wichtige und berechtigte Punkte. Trotzdem ein paar Anmerkungen dazu: Erwachsenen Autisten muss man diese Dinge in der Regel nicht mehr beibringen, denn die haben es durch die harte Realität des Lebens (und teils sehr bittere Lektionen) längst gelernt.
Die Frage ist, wie bringt man diese Dinge autistischen Kinder und Jugendliche nahe? Und zwar auf liebevolle Weise, ohne sie durch einen harschen Ton und drastische Strafen zu traumatisieren? (So wie es es früher im Heim erlebt habe.) Gibt es dafür kindgerechte Konzepte? Das ist für mich die entscheidende Frage.
Noch einen Aspekt: Auch das perfekte Einstudieren sozialer Regeln ist für sich alleine noch keine Garantie für ein glückliches Leben. Keine Garantie dafür, dass ich Freunde oder eine Partnerschaft finde. Keine…