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Autismus und herausforderndes Verhalten: Wer fordert wen heraus?


Susanne Strasser
Susanne Strasser

Der Begriff „herausfordern“ wird oft intuitiv als „provozieren“ verstanden. Synonyme für herausfordernd sind laut Duden: aggressiv, angriffslustig, aufreizend und frech. Da stellt sich gleich vorweg die Frage, ob dieser Begriff im Kontext mit autistischen Verhaltensweisen angebracht ist? Nein, definitiv nicht. Menschen im Autismus-Spektrum wollen mit ihrem Verhalten niemanden provozieren.


Es gibt aber noch eine andere Bedeutung von „herausfordernd“. Eine schwierige, anspruchsvolle oder problematische Aufgabe oder Situation kann ebenso als „herausfordernd“ bezeichnet werden. Da kommen wir der Sache schon näher.


In diesem Sinne handelt es sich um einen sehr subjektiven Begriff. Denn ob eine Aufgabe oder Situation für jemanden anspruchsvoll ist, hängt von seinem eigenen Erleben ab. Was für den einen ein Problem darstellt, kann von jemand anderen als völlig unproblematisch wahrgenommen werden. Die Tatsache, ob etwas herausfordernd ist, hängt auch wesentlich davon ab, welche Bewältigungsstrategien, Ressourcen oder Unterstützung jemanden zur Verfügung stehen. Darüber hinaus ist es auch noch vom Kontext oder der Kultur, in der man lebt, abhängig, ob etwas als problematisch wahrgenommen wird.


Was versteht man denn nun unter „herausforderndem Verhalten“ in Zusammenhang mit Autismus?


Wenn man das Verhalten von Menschen im Autismus-Spektrum diskutiert, bezieht sich der Begriff "herausfordernd" auf Verhaltensweisen, die als schwierig, problematisch oder störend empfunden werden, insbesondere in sozialen oder zwischenmenschlichen Situationen. Diese Verhaltensweisen werden auch als Verhaltensauffälligkeiten bezeichnet oder negativ formuliert als Problemverhalten.


Herausforderndes Verhalten kann dabei eine Vielzahl von Formen annehmen, darunter Aggression, Meltdowns, oppositionelles Verhalten, Selbstverletzung, hyperaktives Verhalten, Stereotypien oder soziale Isolation.


Doch wer fordert nun wen heraus?


Herausforderndes Verhalten kann nicht alleine an der betroffenen Person festgemacht werden, sondern entsteht in einem Wechselspiel mit der Umgebung. Es ist eine Reaktion auf das Umfeld und darauf, wie die Person dieses Umfeld erlebt. Jeder Mensch reagiert auf seine eigene Art und Weise auf die Umwelt und auf das, was er erlebt. Da sich die Wahrnehmung von Menschen im Autismus-Spektrum zumeist deutlich von der neurotypischer Menschen unterscheidet, ist auch das Erleben anders. Das heißt nicht, dass deren Erleben falsch ist, lediglich anders. Und so ist auch das Verhalten nicht falsch, sondern genau dem Erleben der Situation entsprechend richtig.


Das in der jeweiligen Situation gezeigte Verhalten entspricht dann aber oft nicht den Erwartungen der Gesellschaft. Es wird als Herausforderung verstanden. Es bedeutet, dass das Verhalten der Person im Autismus-Spektrum für neurotypische Menschen als schwierig und nicht nachvollziehbar erlebt wird. Also wird die neurotypische Gesellschaft durch dieses Verhalten herausgefordert.


Aber auch der Mensch im Autismus-Spektrum steht vor einer Herausforderung. Es ist die neurotypische Gesellschaft, die ihn herausfordert, weil sie seine Wahrnehmung und sein Erleben nicht nachvollziehen kann. Befindet man sich einer Situation, die als unerträglich wahrgenommen wird und einem keine anderen Kommunikationsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, oder auf die Bedürfnisse nicht Rücksicht genommen wird, muss man versuchen, sich entweder anders auszudrücken oder aktiv etwas gegen ein Problem zu unternehmen. Also steht die betroffene Person ebenfalls vor einer Herausforderung, die sie bewältigen muss. Kann sie es nicht auf sozial angemessene Weise, muss sie andere Wege finden. Herausforderndes Verhalten ist also Kommunikation und gegebenenfalls sogar ein Hilferuf.


Was sind nun die häufigsten Gründe für herausforderndes Verhalten?


Die zugrunde liegenden Ursachen können vielfältig sein. Es können unerfüllte Bedürfnisse oder emotionale Probleme sein. Auch soziale Situationen können dieses Verhalten auslösen. So kann eine Person Situationen, die ihre Selbstbestimmung einschränken, sie kränken oder in denen sie sich ungerecht behandelt fühlt, als intensiven Stress wahrnehmen. Auch Langeweile und langes Warten, misslungene Kommunikation, unerfüllte Erwartungen, Angst oder plötzliche Planänderungen können herausforderndes Verhalten auslösen. Sogar ein Übermaß an positiven Emotionen kann eine Überforderung verursachen. Sehr häufig handelt es sich allerdings um Reaktionen auf sensorische Reize aus der Umwelt. Da die Wahrnehmung von Menschen im Autismus-Spektrum meist intensiver, schwächer oder anders ist, werden auch Situationen intensiver, schwächer oder eben anders wahrgenommen. Daher sind auch die Reaktionen darauf oft intensiver, schwächer oder anders - und für andere herausfordernd.


Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Ein Kind im Autismus-Spektrum, welches sich in einem Klassenraum mit vielen anderen Kindern befindet, ist schnell von der Situation sensorisch überfordert - zu laut, zu schnell, zu hell, zu intensiv etc. Die Situation stellt das Kind vor eine große Herausforderung. Welche Strategien stehen dem Kind nun zur Verfügung, um die Situation zu bewältigen? Weglaufen, sich selbst durch Zufügen von Schmerz von der Situation abzulenken, versuchen andere Kinder am Lärmmachen zu hindern, nervöses Auf- und Ablaufen im Klassenraum, Ohrenzuhalten, Rückzug oder Meltdown? Es gibt viele Möglichkeiten, sich in dieser unerträglichen Situation zu verhalten. Dieses Verhalten stellt allerdings das Umfeld vor eine Herausforderung. Warum verhält sich das Kind so? Was kann die Lehrperson dagegen tun? Was will das Kind damit erreichen? Eine Möglichkeit kann ausgeschlossen werden - das Kind will die Lehrperson nicht provozieren. Es ist auch nicht trotzig und eigensinnig und auch kein aggressives Kind.


Wie löst man dieses Problem?


Es ist wichtig, nicht nur das Verhalten selbst, sondern auch die zugrundeliegenden Ursachen zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren. Es gilt, die eigenen Perspektive zu verlassen und die Situation als Ganzes zu betrachten. Wann und wo tritt das Verhalten auf? Wer war in der Situation anwesend? Was ist dem Verhalten vorangegangen? Und was war die Folge des Verhaltens? Ist es immer die gleiche Situation, in der das Verhalten auftritt? Durch die Beantwortung dieser Fragen, können viele Situationen identifiziert und folglich verändert oder vermieden werden.


Im Falle des genannten Beispiels des autistischen Kindes in der Schule, wären die Schaffung von temporären Rückzugsorten, die Herstellung einer übersichtlichen Struktur und Vorhersehbarkeit, das verlässliche Einhalten von Zeitplänen und das Bereitstellen diverser Hilfsmittel zur sensorischer Entlastung Beispiele für Möglichkeiten, Überforderung zu verhindern. Werden die Unterstützungsmöglichkeiten ignoriert, fordert man das Kind heraus.


Es kommt darauf an, erfolgreich zu lernen, wie man sich diesen Herausforderungen stellt und vor allem, wie man vermeidet, dass die autistische Person dieses Verhalten überhaupt zeigen muss, um gehört zu werden - und zwar in einer Weise, die für alle Beteiligten zu einer zufriedenstellenden und angenehmen Lösung führt.

 

(der Text wurde auszugsweise entnommen aus „Die besondere Wahrnehmung von Menschen im Autismus-Spektrum“ von Susanne Strasser, 2024)


Über die Autorin: Susanne Strasser hat Psychologie und Bildungswissenschaften studiert und arbeitet als Referentin und Beraterin im Bereich der Elternbildung und der Fortbildung für Fachpersonal, als Persönlichkeits- und Selbstbestimmungstrainerin sowie in der Beratung und Therapie für Menschen im Autismus Spektrum. Sie ist Mutter von zwei Kindern, einer Tochter mit Autismus und einem neurotypischen Sohn.


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1 Comment


Ich arbeite seit einigen Jahren u.a. mit Kindern im Autismus-Spektrum. Im täglichen Erleben ist es nicht immer möglich Meltdowns zuvor zu kommen. Ihre Worte sprechen mich an, aber ich möchte noch ergänzen, herausforderndes Verhalten beinhaltet auch Gewalt gegen Gegenstände und Menschen. Leider wird das in der Realität bei der Arbeit mit Autisten oft zu wenig thematisiert oder in klare Worte gefasst. Als ich meine erste Arbeitsstelle in einem Wohnheim für erwachsene Autisten antrat, wusste ich, dass ich es mit herausforderndem Verhalten zu tun bekomme. Aber, dass dieser Begriff auch Selbstverletzung, Zertrümmerung von Möbeln und körperliche Angriffe beinhalten kann wurde nicht direkt kommuniziert. So konnte ich nur mit Panik reagieren, als ich zum ersten Mal angegriffen wurde. Warum kann man auf…

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