Autismus in Bezug auf geistige Behinderung ist ein schwieriges Thema. Das fängt schon bei den Begriffen an. «Geistige Behinderung» ist im Alltag noch sehr gebräuchlich, sollte aber nicht mehr verwendet werden, da geistige Funktionen ein sehr breites Spektrum umfassen. Zu denen gehören z.B. auch Gefühle, die oft nicht beeinträchtigt sind. Es geht also um intellektuelle oder kognitive Einschränkungen. Auch der Begriff «Behinderung» ist problematisch.
Im Klassifikationssystem ICD-10 wurde der Begriff «Intelligenzminderung» verwendet, in der ab 1. Januar 2022 gültigen neuen Version ICD-11 der Begriff «Intellektuelle Entwicklungsstörung». Bisher gebräuchlich war eine Einteilung an IQ-Werten. Dabei wurden IQ-Werte von 50 bis 69 als leichte, von 35 bis 49 als mittelgradige, von 20 bis 34 als schwere und von weniger als 20 als schwerste Intelligenzminderung bezeichnet. Ein IQ-Wert zwischen 70 und 84 wird nicht als Intelligenzminderung, sondern als Lernstörung bezeichnet. Hier zeigt sich eine weitere Schwierigkeit. Denn sind die in Intelligenztests ermittelten Werte zuverlässig? Sind sie bezüglich der Alltagsbewältigung und des zukünftigen Entwicklungspotentials eines Menschen aussagekräftig?
Wichtiger sind Angaben zur Selbstständigkeit im Alltag bzw. zum Unterstützungsbedarf.
Autismus und intellektuelle Entwicklungsstörung
Wie ist die Verbindung zwischen Autismus und intellektueller Entwicklungsstörung? Im ICD-10 wurden noch die drei Diagnosen Frühkindlicher Autismus, Atypischer Autismus und Asperger-Syndrom verwendet, wobei zur Diagnose des Asperger-Syndroms definitionsgemäß eine normale sprachliche und kognitive Entwicklung gehörte.
Im ICD-11 gibt es nur noch die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Sie wird weiter differenziert als ASS mit oder ohne Störung der intellektuellen Entwicklung und mit oder ohne Störung der sprachlichen Entwicklung. Alle Kombinationen sind möglich.
Haben autistische Kinder gehäuft auch eine intellektuelle Entwicklungsstörung?
Hier stellen sich zusätzliche Probleme. Eine zuverlässige Testung ist sehr schwierig und setzt große Erfahrung der Untersucher*innen mit Autismus voraus. Viele autistische Kinder sind nicht motiviert, in der Testsituation zu zeigen, was sie können. Ihre Fähigkeiten werden vermutlich oft zu niedrig eingeschätzt. Trotzdem kann kein Zweifel daran bestehen, dass intellektuelle Entwicklungsstörungen bei autistischen Kindern sehr viel häufiger auftreten als im Durchschnitt. Die Zahlen sind nicht einheitlich, weisen aber darauf hin, dass ein Drittel bis die Hälfte der Kinder auf dem autistischen Spektrum betroffen sind. Grundsätzlich kann man sagen, dass je schwerer die Ausprägung der autistischen Symptome ist, desto häufiger intellektuelle Entwicklungsstörungen auftreten – wobei gerade diese Kinder am schwierigsten zu testen sind. Es bleiben viele Unsicherheiten.
Wie kommt es zu dieser Verbindung?
Genetik spielt vermutlich eine große Rolle. Es gibt viele Hinweise, dass bei autistischen Kindern viele Gene, die die Hirnentwicklung beeinflussen, verändert sind. Es ist anzunehmen, dass gerade bei schweren Ausprägungen, diese Gene nicht nur die soziale Entwicklung in Richtung Autismus bewegen, sondern dass auch andere Bereiche, z.B. die kognitive Entwicklung, davon betroffen sind. Wenn bei diesen Kindern auch noch epileptische Anfälle auftreten, ist es ein weiterer Hinweis auf eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Hirnentwicklung.
Auch ein schädigender Einfluss während der Schwangerschaft kann die Gehirnentwicklung in mehreren Bereichen stören. Ein bekanntes Beispiel, das zum Glück aber fast nicht mehr vorkommt, ist eine Infektion des Fötus mit dem Rötelvirus. Die betroffenen Kinder sind oft autistisch, haben eine schwere Intelligenzminderung, erleben oft epileptische Anfälle und sind in vielen Fällen auch noch schwer hör- oder sehbehindert. Es ist anzunehmen, dass auch weniger gravierende Einflüsse, z.B. Medikamente während der Schwangerschaft oder auch massive Umweltbelastungen, das Risiko für Autismus und/oder für eine Intelligenzminderung beim Kind erhöhen.
Weitere Schwierigkeiten bei der Diagnose
Bei sehr jungen Kindern mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung kann die Diagnose einer autistischen Störung schwierig sein. Aktuell stützt sich die Diagnose stark auf das Fehlen kommunikativer Interaktionen (geteilte Aufmerksamkeit), die bei neurotypischen Kindern im Alter von 12 bis 18 Monaten auftreten, z.B. auf Dinge zeigen, damit die Mutter auch dorthin schaut oder mit dem Blick folgen, wenn der Vater auf etwas hinweist. Wenn also ein zweieinhalb-jähriges Kind auf Grund eines Entwicklungsrückstandes erst ein Entwicklungsalter von zwölf Monaten aufweist und dementsprechend diese Kompetenzen nicht zeigt, kann man nicht sagen, ob dahinter eine autistische Störung steht oder ob es nur die Folge des tiefen Entwicklungsalters ist.
Wie schon erwähnt, soll im ICD-11 die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung immer in Hinblick auf den kognitiven Entwicklungsstand gestellt werden, also ASS mit oder ohne Störung der intellektuellen Entwicklung. Wie soll das erfasst werden? Auf die Schwierigkeit einer Testung wurde schon hingewiesen. Ein Testresultat ist außerdem immer eine Momentaufnahme. Gerade bei schwer autistischen Kindern dürfte ein Testresultat vor Therapiebeginn ein zu niedriges Resultat ergeben. Auf jeden Fall muss es nach etwa einem Jahr einer intensiven, Autismus-spezifischen Behandlung, wieder überprüft werden. Oft zeigen Frühinterventionen eine eindrückliche Verbesserung der IQ-Werte. Die Kinder sind aber nicht «intelligenter» geworden, sondern haben in der Therapie gelernt, ihr Gegenüber besser wahrzunehmen, sich auf eine gestellte Aufgabe einzulassen und so ihre Fähigkeiten besser zu zeigen.
Trotzdem sollte das IQ-Resultat nicht überbewertet werden. Eigentlich eignen sich die Begriffe «hoch- bzw. tieffunktionaler Autismus» besser, weil die Funktionalität nicht nur den IQ-Wert beinhaltet, sondern auch die Selbstständigkeit im Alltag und andere Fertigkeiten miteinbezieht. Dr. med. Ronnie Gundelfinger
Auch am anderen Ende des Spektrums gibt es Verbindungen zwischen Autismus und intellektueller Entwicklung. Ein beträchtlicher Teil der «Savants», also der Menschen mit herausragenden Fähigkeiten, sind Autisten. Dabei spielen phänomenale Gedächtnisleistungen eine wichtige Rolle. Viele Fachpersonen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich zeigen autistische Züge oder erfüllen die diagnostischen Kriterien – bisher eines Asperger-Syndroms, nun einer ASS ohne intellektuelle Entwicklungsstörung. Elon Musk bezeichnet sich selbst als Autist, bei Mark Zuckerberg oder Bill Gates liegt der Verdacht nahe. Aber nicht in jedem Kind mit Asperger-Syndrom steckt ein verborgenes Genie!
Oft haben diese Kinder zwar einen normalen oder sogar überdurchschnittlichen IQ, gleichzeitig aber ausgeprägte Lernprobleme, v.a. wegen schlecht entwickelter «exekutiver Funktionen». Dazu gehören Aufmerksamkeit oder Arbeitsplanung und -organisation. Oft werden diese Kinder auch durch eine extreme Detailorientierung vom Wesentlichen einer Aufgabe abgelenkt oder durch die typische Reizüberflutung gestört.
Die Zusammenhänge und Verbindungen zwischen ASS und intellektueller Entwicklung sind also vielfältig. Beides wird aus dem Gehirn gesteuert. Bei allen Entwicklungsstörungen sind häufig mehrere Bereiche betroffen. Von im Alltag schwer beeinträchtigten Menschen bis hin zum/zur Nobelpreisträger*in ist im Autismusspektrum alles möglich.
Dr. med. Ronnie Gundelfinger hat nach dem Medizinstudium zuerst die Facharzt-Ausbildung zum Kinderarzt und anschließend zum Kinder- und Jugendpsychiater absolviert. Seit 1991 ist er als Oberarzt, seit 2008 als leitender Arzt an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (KJPP) der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich tätig. Frühere Schwerpunkte seiner Arbeit waren Kinder mit ADHS, Kinder psychisch kranker Eltern und Kinderschutz. Seit 2004 leitet er die Fachstelle Autismus der KJPP. Er ist außerdem seit vielen Jahren im Vorstand des Elternvereins autismus deutsche schweiz (ads) aktiv.
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