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Autismus früh erkennen und angemessen behandeln


Klaus Kokemoor

Die Diagnose autistischer Kinder erfolgt nach meiner Erfahrung immer noch viel zu spät. Wir warten in der Regel so lange, bis ein Kind eine Anzahl von Symptomen entwickelt hat, die dann eine Autismus-Spektrum Störung beschreiben. Dabei können wir bei Kindern schon sehr früh einzelne, spezifische Verhaltensweisen beobachten, die darauf hindeuten, dass sich in der Folge Symptome entwickeln, die dem Spektrum zuzuordnen sind. Doch wir sollten schon beim Erkennen der ersten Anzeichen eine Begleitung zur Verfügung stellen, die es dem Kind ermöglicht, in den Dialog mit den anderen zu gelangen, um dadurch weniger oder keine Symptome zu entwickeln.


Die meisten dieser besonderen und auffälligen Verhaltensweisen sind aus der Sicht des Kindes zunächst eine Möglichkeit, um eine Situation angenehmer oder erträglicher zu gestalten. So sitzt Simon (2 Jahre alt) beim Morgenkreis, mit dem Rücken zur Gruppe, auf dem Fußboden, während alle anderen Kinder auf kleinen Stühlen Platz genommen haben. Alle warten darauf, dass das Guten-Morgen-Lied endlich angestimmt wird. Auch Simon liebt diesen Moment, wenn wie jeden Morgen dieses Lied ertönt und die Klänge der Gitarre zu hören sind. Er möchte dabei jedoch die anderen Kinder und deren Gesichter nicht sehen, da er darin nichts Bedeutungsvolles erkennen kann. Aus diesem Grund dreht er sich mit dem Rücken zur Gruppe, hat seinen grünen Kapuzenpulli über den Kopf gezogen und schiebt das kleine Polizeiauto auf einem Stuhl hin und her, ohne die Räder dabei aus den Augen zu verlieren. Simon macht kaum Laute, spricht kein einziges Wort und doch haben die pädagogischen Fachkräfte in der Kinderkrippe verstanden, welchen Rahmen Simon braucht, um einfach da zu sein und ihm die Teilhabe am Morgenkreis zu ermöglichen. Hier werden die Grundgedanken und die Grundhaltung von Inklusion sichtbar und für Simon die positiven Wirkweisen wirklich spürbar.*1 Ich kann einfach da sein und mit meinen Ohren den Tönen und Klängen folgen, während sich vor meinen Augen immer wieder das sich so wunderbare Rad des Polizeiautos dreht.*2


Inklusion verlangt nicht die Anpassung des Individuums an die Gruppe, den anderen oder die Gesellschaft, sondern umgekehrt. Wir sind es, die dem Kind Räume, Möglichkeiten, Gelegenheiten und uns selbst zur Verfügung stellen müssen, um Teilhabe, Partizipation, Interaktion und persönliche Entwicklung beim autistischen Kind zu ermöglichen. Simon hat einen Weg gewählt, sich in der Kindertagesstätte aufzuhalten. Er sitzt häufig im Kniesitz und hat die Kapuze über dem Kopf, um Ohren und Augen zu schützen. Er sucht nicht den Kontakt, sondern dreht sich weg, wenn ihm die Kinder zu nahekommen. Simon ist stark auf sich selbst und sein stereotypes Spiel mit kleinen Autos oder anderen kleinen Gegenständen bezogen, die er stundenlang betrachten, berühren und bewegen könnte.*3 Er nimmt auch keinen Blickkontakt auf, wenn er angesprochen wird und zeigt selbst bei Erwachsenen keine Anzeichen, diese an seinem Erleben oder Spiel teilhaben zu lassen. Nun sind das Erkennen, Verstehen und Akzeptieren seiner besonderen und teilweise bizarren Verhaltensweisen ein Aspekt von Inklusion, der jedoch allein nicht ausreichen wird, um Simon davor zu schützen, weitere tiefgreifende Symptome zu entwickeln und zu manifestieren. Das heißt, Simon braucht einen Rahmen, der es ihm ermöglicht, zunächst mit dem anderen, seinem Gegenüber, in den so wichtigen zwischenmenschlichen Dialog treten zu können.


Ich bitte die Heilpädagogin, sich zu dem Spiel von Simon in Beziehung zu setzen und dieses mit Worten, Tönen, Emotionen oder Handlungen zu begleiten. Die Kollegin setzt sich auf die andere Seite eines kleinen Podestes, auf welchem Simon nun ein großes Polizeiauto hin und her schiebt, ohne dabei die sich drehenden Räder mit seinen Augen loszulassen. Die Pädagogin nimmt sich das kleine Polizeiauto und fährt dieses mit einen „Tatü-Tata“ ebenfalls über das Podest. Simon nimmt das kleine Auto in seinen Blick bevor er es der Kollegin entreißt, um es dann selbst etwas hektisch hin und her zu schieben. Nun schleudert Simon das kleine Auto durch den Raum, um sich wieder vollkommen den Rädern des großen Autos zu widmen. Er nimmt dabei weiter keinen Blickkontakt zu der Erzieherin auf. Auch das kleine Auto scheint in diesem Moment keine Bedeutung mehr zu haben. Die Kollegin hält nun eine Hand als Barriere oder Schranke vor das große Auto, aber Simon lässt das Auto über das Hindernis hüpfen und setzt die Fahrt damit fort. Er scheint das Auto nicht wirklich zu einem Ort zu fahren, sondern es lediglich zu bewegen, damit sich die vier Räder unaufhörlich drehen können. Hier erscheint das Auto nicht als Spielzeug mit einem symbolischen Gehalt zu dienen, sondern als Objekt, welches dazu beiträgt, ihm angenehme Gefühle zu machen. Genau dieser Aspekt macht es seinem Gegenüber schwer, sich zu diesen Handlungen angemessen zu verhalten.


Die Pädagogin lässt jedoch in ihren Bemühungen nicht nach, sich zu Simon und seinem Spiel in Beziehung zu setzen. Sie bleibt dabei sehr ruhig und reduziert. Nun nimmt sie das Auto ihrerseits in den Blick und singt förmlich das „Tatü-Tata“! – Simon hält inne und nimmt Blickkontakt zu der Erzieherin auf, die diesen Blick auch für einen kurzen Moment erwidern kann, denn genau in diesem Moment kommt ein Mädchen, sagt zu der Kollegin: „Guck mal!“ – und hält ihr ein Spielzeug vors Gesicht. Sofort ist das dünne Beziehungsband zwischen Simon und der Fachkraft gerissen. Hier liegt ein Grundproblem in der Begleitung von autistischen Kindern. Ihre Affekte sowie ihre Möglichkeiten sich über ihre Augen und ihre Mimik in Beziehung zu setzen sind so reduziert und selten, dass sie den Aufmerksamkeitsfokus ihrer Bezugspersonen in der Regel nicht hinreichend erreichen, um einen dauerhaften und so wichtigen, wechselseitigen Dialog entstehen zu lassen.


Wir brauchen also einen Rahmen, der die Möglichkeit, den anderen mit seinen Initiativen, kleinsten Kommunikationsangeboten und Affekten, wahrzunehmen, erhöht.*4 In der Kita, in welcher Simon betreut wird, wählen wir einen sehr reizarmen Raum in welchem nur ein Teppichboden sowie acht Bewegbausteine (bezogenen Schaumgummiblöcke) sind. Hier trifft sich die heilpädagogische Fachkraft fast täglich für 20 Minuten mit Simon, um Interaktionsmomente zu initiieren. Sie baut dazu aus den Bewegbausteinen einen massiven Turm, der Simon deutlich überragt, während dieser im Zehenspitzengang seine Runden dreht – ohne scheinbar Notiz von diesem Bauwerk zu nehmen. Doch genau in dem Moment, als die pädagogische Fachkraft den letzten Stein auf den Turm gesetzt hat, steuert Simon darauf zu, gibt einen Ton von sich und schubst den Turm mit einem heftigen Stoß um. Es geht alles rasend schnell und die Pädagogin geht zu Simons Aktion und seinem Erleben mit ihrem ganzen Körper, mit ihrer Stimme, mit ihrer Gestik und Mimik sowie ihrer Emotion in Beziehung. Es ist ein explosiver – oder besser exklusiver – Beziehungsmoment, in welchem es für Beide nur das Ereignis des Fallenden Turmes sowie den eigenen Reaktionen gibt, die hier für Sekunden zu einer Einheit verschmelzen. Simon lacht, kreischt und das spontane Lachen der Fachkraft, welches sich auch in ihrem Gesicht abbildet, ist hier eine unmittelbare Spiegelung seiner Emotionen.


Simon läuft auf Zehenspitzen, was ihm das Gefühl von mehr Körperlichkeit verleiht, in einem großen Kreis durch den Raum und klatscht dabei immer wieder seine Handflächen zusammen. Als er zum Ort des Geschehens zurückkommt, sagt er: „Oukehr“, was vielleicht okay heißen soll. Die Pädagogin greift sein Wort „Oukehr“ auf, indem sie es wiederholt. Sie geht zu allem, was Simon hier macht, in Resonanz und in der Summe der Resonanzerfahrung, die Simon erhält, gibt ihm dieser Moment das Gefühl von Anwesenheit. Dieses Gefühl von Anwesenheit in der Beziehung zum anderen, hat in der Folge einen beachtlichen Anteil an seiner Selbst- und Identitätsbildung.*5 Simon greift nach einem Baustein, den die Kollegin gerade auf einen anderen setzen möchte und er vollendet ihren Versuch. Er begleitet seine Handlungen mit Lauten, die einer Erzählung gleichen und von der Kollegin ebenfalls mit einem „Jaah“ und Emotionen, die ich als Resonanzen bezeichnen möchte, begleitet werden. Sie bauen den Turm nun mit vereinten Kräften auf, wobei die Pädagogin weiter zu jeder Initiative und Handlung von Simon in Resonanz geht. Er wird hier in seinem Handeln und seinen Gefühlen mit Worten, Tönen und Emotionen umhüllt. Hier sind die Worte, die sich auf seinen eigenen Handlungskontext beziehen, nicht nur Geräusche, keine bedeutungstauben Silben oder gar ein bla, bla, bla.*6 Hier haben die Worte eine Bedeutung, werden verstanden und lassen sein Welterleben mit dem der anderen für kleine Momente verschmelzen.


Dieses intensive Spiel setzt sich in dieser und den folgenden pädagogischen Einheiten fort und Simon kommt immer wieder zum Ort des Geschehens zurück, um entweder den Turm aufzubauen oder zu zerstören. Es geht ihm dabei jedoch nicht nur um das Objekt Turm, sondern um die Begegnung mit der pädagogischen Fachkraft, die hier ein Spiegel seiner eigenen Gefühle, Handlungen und seines Erlebens ist. Das Spiel erinnert phasenweise an das Spiel mit dem Turm, wo es dem Kind darum geht, seine Existenz zum Ausdruck zu bringen. Du baust den Turm auf und ich schmeiße den Turm um und zeige dir damit, dass ich mich von dir unterscheide.*7 In der Begegnung zwischen Simon und der Pädagogin, welche mit einem intensiven tonisch-emotionalen Dialog einhergeht, wird der andere nun wirklich mit allen Sinnen wahrgenommen und die für das autistische Kind so schwer erkennbaren Eigenschaften von ich und du, werden sicht- und spürbar. Simon interessiert sich nicht nur für das Verhalten der Erzieherin, sondern es macht für ihn einen Reiz aus, sich immer wieder dieser Begegnung zu stellen, da er den expressiv-mentalen Gehalt dieser Verhaltensweisen erfasst und seinerseits mit Affekten darauf reagiert. Hier nimmt der andere als Objekt eine Gestalt an, die sich vom Objekt Turm deutlich unterscheidet.*8 Es sind diese Erfahrungen mit sich selbst, sowie dem affektabgestimmten anderen, die das Kind braucht und letztlich zu einem klaren Selbstbild führen.*9 Es ist ein wechselseitiges Erleben, durch welches sich auch schrittweise das körperliche Empfinden neu strukturiert und in der Folge das Gehen auf Zehenspitzen oder in die Hände klatschen überflüssig machen kann. Doch nicht nur das Bild vom eigenen Selbst kann hier reifen, auch das Fremdbild, also das Bild vom anderen, da dieser Prozess mit intensiven Erfahrungen mit der Betreuungsperson einhergeht.*10


Simon zeigt dieses, auch indem er sich immer wieder hinter dem Turm versteckt, ein Verhalten, welches ich auch aus der Therapie mit autistischen Kindern kenne und welches zunehmend das Interesse der Lust an der Begegnung mit dem anderen ausdrückt.*11 Ich verstecke mich, weil ich von dir gefunden werden möchte. Die Fachkraft geht auf diese Impulse von Simon ein und sagt: „Kuckuck!“ - bis er hinter der Wand hervorschaut und ein langgezogenes: „Baaah!“, der Kollegin folgt. Hier zeigen beide wieder starke Emotionen, die sich in dem gesamten Körper von Simon auszubreiten scheinen. Diese Erlebnisse auf der Gefühlsebene mit ihrem propriozeptiven Feedback ermöglichen es dem autistischen Kind, die Welt ganzheitlicher wahrzunehmen und in das sich weiter entwickelnde Selbst zu integrieren.*12 Es erhält darüber hinaus Worte und Spiegelungen vom Gegenüber, die es ihm ermöglichen, seine Empfindungen emotional, körperlich und kognitiv aufzunehmen und zu integrieren.*13


In der Folge sucht Simon auch im pädagogischen Alltag der Kindertagesstätte, die nach dem offenen Konzept arbeitet, immer häufiger den Kontakt zu anderen Erwachsenen und gelegentlich auch Kindern. Es ist jedoch deutlich, dass er weiter sehr auf die Spiegelung seiner Gefühle, seiner Handlungen oder seiner Initiativen angewiesen ist, um sich in diesem Kontakt sicher zu fühlen. Im Kreativraum schmiert Simon blaue Farbe mit seiner rechten Hand auf ein Blatt Papier, während er mit Links weiter die Farbe aus der Tube drückt. Zwischendurch macht er einen Ton, den die Kollegin, die ihn in seinem Tun beobachtet, jedes Mal kopiert. Beim vierten Mal schaut Simon die Kollegin an und zeigt ein Lächeln, welches von der Fachkraft mit einem Lächeln erwidert wird. Nun folgt ein längerer Blickkontakt von Simon, der über ein reines Betrachten des anderen hinausgeht und in welchem Simon nach meinem Eindruck zunehmend lernt, die Gesichter und dazugehörige Mimik oder Gestik zu verstehen und schätzen zu lernen. In der Kita gelingt es immer mehr Fachkräften, sich angemessen zu den Handlungen, Initiativen und Emotionen von Simon in Beziehung zu setzen. Die anderen Fachkräfte kann ich über die Videointeraktionsanalyse in den Dienstbesprechungen an die Bedeutung dieser Interaktion mit seinen fundamentalen Auswirkungen hinführen. Das Besondere an dieser Interaktion ist, dass wir dem autistischen Kind in seinem Erleben folgen und es so mit unseren Worten, Gesten, Emotionen und Affekten begleiten oder umhüllen. Hier scheint das autistische Kind unsere emotionale Nähe zu genießen, da sie für Augenblicke kongruent mit seinem Welterleben sind.*14


Bevor ich beschreibe, wie sich die Entwicklung von Simon fortsetzt, kommen wir auf Leon zu sprechen, den ich vor sechs Monaten kennengelernt habe. Leon zeigt von sich aus keine Anzeichen von Blickkontakt oder Interaktion mit anderen. Er möchte nicht draußen sein und spielt am liebsten drinnen für sich allein mit der Eisenbahn. Er legt auch sehr gerne Puzzle. Leon zeigt dabei jedoch keine Emotionen und teilt seinen Erfolg nicht mit anderen, wenn er das Puzzle fertig gestellt hat. Es ist ein sehr charakteristisches Verhalten von autistischen Kindern, den anderen nicht in das eigene Handeln oder Erleben mitzunehmen.*15


Ich wurde von dem Team eingeladen, weil Leon regelmäßig aggressives Verhalten zeigt, wenn die Kindergartengruppe zu unruhig oder laut ist. Mir wird deutlich zu verstehen gegeben, dass Leon mit diesen Verhaltensweisen nicht länger in der Krippengruppe betreut werden kann und ein Wechsel in die eigene Kindergartengruppe im Sommer ausgeschlossen wird. Leon zeigte bei meinem ersten Besuch in der Kita ein Verhalten, wie ich es schon bei sehr vielen autistischen Kindern beobachten konnte. Er liegt lang ausgestreckt auf dem Boden und schiebt eine Holzeisenbahn vor seinen Augen hin und her. Er liegt dabei auf der Seite und scheint sich der Schwerkraft, den sich drehenden Rädern sowie der visuellen Struktur dieser Eisenbahn, hinzugeben. Nach meinem Eindruck sind autistische Kinder hier weniger mit Handlungen, sondern mehr mit einem Empfindungserleben beschäftigt.*16 Der Zug bildet eine wunderbare Einheit, die sie selbst in sich nicht so spüren.


Ich bitte die pädagogische Fachkraft sich zu seinem Handeln und seinen Impulsen in Beziehung zu setzen, um zu überprüfen, ob Leon hierauf reagiert. Die Kollegin bemüht sich dieses zu tun, doch es gelingt ihr nur in wenigen Momenten, da sie mit ihren Worten und Emotionen noch zu sehr bei ihren eigenen Bildern und Vorstellungen verhaftet ist. Dieses Verhalten zeigen übrigens viele pädagogischen Fachkräfte und Eltern in der Interaktion mit autistischen Kindern und nun geht es mir in der Videointeraktionsanalyse darum, den Begleitpersonen zu zeigen, welche ihrer Handlungen eine echte Begleitung im Erleben des Kindes darstellen.*17 In den Szenen, die ich an diesem Tag filme, gibt es noch keine Momente in denen Leon mit einem triangulären Blick auf die Intervention der Fachkraft reagiert. Er bleibt bei seinem Spiel, der Faszination, für die sich auf den Holzschienen schlängelnde Eisenbahn. Als er feststellt, dass ihm noch eine Schiene fehlt, geht er zu der Kollegin und nimmt ihr eine Schiene aus der Hand, ohne die Fachkraft dabei anzuschauen oder an seinem Handeln teilhaben zu lassen.


In der Videoberatung ist die Kollegin sehr offen für die Hinweise darüber, welche ihrer Worte und Emotionen wirklich das Spiel und das Erleben von Leon berühren, auch wenn es hierauf von seiner Seite noch keine sichtbaren Reaktionen zeigt. Doch schon beim nächsten Besuch wird deutlich, dass sie ihre Worte und Emotionen viel deutlicher, selbstverständlicher, sicherer und häufiger auf die Handlungsmomente von Leon bezieht. Über diese konsequentere Bezogenheit ihrer Emotionen auf das Erleben und Handeln von Leon lernt er in der Folge, die Emotionen von anderen besser zu erfassen. Er muss sich nicht mehr so oft an seiner Eisenbahn, mit ihrer schönen visuellen Struktur und ihrer fast magischen Eigenschaft, ihn vor dem Kontrollverlust zu schützen, festhalten, um die chaotische Welt zu kontrollieren oder draußen zu halten.*18 In den weicheren Bewegungen von Leon kann ich auch schon eine leichte Veränderung beobachten. Er wirkt nicht mehr ganz so gestresst, spricht einzelne Worte nach und wirkt insgesamt kooperativer. Die Eltern können ebenfalls eine leichte positive Veränderung bei Leon beobachten, auch wenn sie durch sein Verhalten insgesamt sehr verunsichert und in Sorge sind. In der Videoberatung der Eltern zeigt die Mutter ein sehr gutes Interaktionsverhalten in Bezug auf Leon und auch die Fachkräfte können von diesen kleinen Szenen profitieren, da hier sehr deutlich wird, an welchen Stellen die Mutter in ihrer Begleitung genau das Erleben von Leon aufgreift. Er zeigt hier auch kurze Momente der Triangulierung und ich freue mich sehr über diese Momente, da sie wieder einmal zeigen, dass echte Interaktion möglich ist, wenn wir uns wirklich und unmittelbar auf die Handlungen und Empfindungen des autistischen Kindes einlassen. Erst durch diese Momente scheinen wir für das Kind an Präsenz zu gewinnen und einen Ausgleich für die Vielzahl an Situation zu schaffen, in denen das Kind unseren für das Kind so fremden Vorstellungen folgen muss. Die Entspannung, die ich dann bei den Kindern beobachten kann, hat hier ihren Ursprung.


Die Mutter ist sich gar nicht darüber bewusst, welche Qualität ihre Begleitung hat und ich empfehle den Eltern, so viele solcher Momente zu schaffen, wie es ihnen möglich ist. Denn hier liegt der Schlüssel dafür, die Lust an der Begegnung mit dem anderen, der Lust an der Beschäftigung mit den Objekten, gleich zu setzen. Bei der Begleitung von autistischen Kindern geht es nach meiner Erfahrung nicht vordergründig um das Bereitstellen von Programmen, Routinen, Strukturen und dem Erlernen von Regeln oder dem Einüben von sich wiederholenden Handlungs- oder Kommunikationsmustern, sondern darum, tonisch-emotional zu erfassen, was zwischen den Menschen geschehen kann.*19 Denn es kann nicht darum gehen, diese Kinder lediglich in die Kita zu integrieren oder ihnen zu helfen, unseren Vorstellungen zu folgen. Sondern sie in ein echtes Beziehungserleben einzuladen, welches erst die Grundlage schafft, die Komplexität des Alltags sowie die kulturellen Zusammenhänge mit allen Sinnen zu erfassen.


Manchmal stecken in Krisen auch große Chancen und so gab die Corona-Notgruppe den Erzieherinnen die Möglichkeit, noch intensiver auf die Impulse von Leon einzugehen. Es war bei jedem Besuch in der Kita und auch zu Hause zu beobachten, wie die Interaktionsqualität von Leon und seinen Begleitpersonen zugenommen hat. Durch die Freude und Leichtigkeit, die damit einhergehen kann, entsteht eine Dynamik, die den zwischenmenschlichen Kontakt immer mehr ins Zentrum des Erlebens des autistischen Kindes rückt.


Bei meinem letzten Besuch bin ich berührt, welche Entwicklung Leon – aber auch die Gemeinschaft um ihn herum – gemacht hat. Die Eisenbahn scheint für Leon an Bedeutung verloren zu haben. Er wartet, wie alle anderen Kinder, darauf, endlich gemeinsam mit dem Schwungtuch und den Bällen spielen zu können. Leon greift sich sofort einen der Bälle, drückt ihn an seinen Körper, als wolle er den Ball herzen, bevor er seinen gelben Ball mit den Worten: „Ich tu den darein!“ – in die Ballkiste legt. Bei dieser Handlung sucht er den Blickkontakt zu den anderen Kindern, die alle einen Ball in der Hand haben, als wolle er fragen: „Und ihr?“ – „Darein!“, sagt die Erzieherin, während sie vor den wartenden Kindern das Schwungtuch ausbreitet. Nun rollen alle ihren Ball auf die Mitte des Tuches. Auch Leon, der sich seinen Ball wieder aus der Kiste geholt hat. Jedes Kind nimmt eine Schlaufe des Tuches in die Hand und Leon sagt: „Ich auch!“ – bevor er es den anderen gleich tut. Nun bewegen Kinder und Erwachsene das Schwungtuch in Wellen, sodass die Bälle zu springen oder zu rollen beginnen. Es wird chaotisch, die Kinder kreischen und die Bälle springen durch den Raum, doch Leon scheint diese „Unruhe“ nicht mehr zu stören. Er kreischt mit und schnappt sich sofort zwei Bälle, um diese wieder aufs Tuch zu rollen.


Als alle Kinder und Erwachsene wieder an ihren Schlaufen stehen und auf die Bälle in der Mitte des Tuches schauen, ruft Leon freudig: „Da fehlt noch einer!“ – worauf die Erzieherin exakt seine Worte wiederholt: „Da fehlt noch einer?“ – „Ja, der Rote fehlt noch!“, sagt Leon, während er kräftig ein- und ausatmet. Hier ist ihm seine innere Beteiligung am Spiel in der Gemeinschaft anzusehen. Das Fehlen des roten Balles war niemanden aufgefallen, nur Leon und dieses ist vielleicht eine Kompetenz aus einer Zeit, in der er versucht hat, die Welt vorwiegend visuell einzuordnen. Mein erster Besuch liegt gerade einmal sechs Monate zurück, doch Leon zeigt deutlich, dass er den Schritt in die Gemeinschaft vollzogen hat. In der Betrachtung dieser Bilder, gemeinsam mit den Eltern, sind diese sichtlich berührt und es stellt sich die Frage, ob Leon dieses Verhalten weiter zeigen wird, wenn die Kindergartengruppen wieder komplett sind. Die Mutter fragt: „Wie habt ihr das geschafft?“ – doch die Frage müsste eigentlich heißen: „Wie haben wir es alle zusammen mit Leon geschafft?“


Bei Simon hat sich die gleiche Entwicklung eingestellt, auch wenn diese insgesamt drei Jahre gedauert hat. Die Eltern von Simon haben zum Ende gesagt, für sie sei Simon nicht mehr autistisch. Er spricht, er spielt Rollenspiele, er spielt mit anderen Kindern und zeigt keine sich ständig wiederholenden Verhaltensmuster mehr. Es ist wichtig und unerlässlich, autistischen Kindern einen Rahmen zur Verfügung zu stellen, der es ihnen und den Begleitpersonen ermöglicht, in einen intensiven wechselseitigen Dialog zu treten, um die Lust an der Begegnung mit dem anderen zu wecken und zu fördern. Autismus zeichnet sich durch die von Geburt an bestehende Schwierigkeit der Kinder aus, hinreichend mit der personellen und dinglichen Umwelt in die Wechselbeziehung zu treten. Wir brauchen hier einen Rahmen oder eine Veränderung, die dieses möglich macht.


Nach meiner Erfahrung braucht es eine grundlegende Veränderung bei der Förderung von autistischen Kindern. Oft werden die Kinder erst diagnostiziert, wenn sich alle Symptome entwickelt haben und die weitere Begleitung oder Förderung konzentriert sich dann auf die Behandlung eben dieser Symptome. Doch wir müssen an die Wurzeln, denn die Symptome sind nicht das Resultat eines genetischen Programms, sondern der Mangel an tonisch-emotionalen Austauschprozessen.


Nun möchte ich mit diesen Beispielen nicht den Eindruck erwecken, wir bräuchten dem autistischen Kind nur ein Interaktionsangebot machen und schon würden die Symptome verschwinden. Ich möchte jedoch sagen, dass es viel häufiger möglich wäre, wenn wir mit der Begleitung der Kinder und ihrer Eltern ab dem ersten oder zweiten Lebensjahr beginnen würden. Der Kern dieser Begleitung liegt im tonisch-emotionalen Dialog, bei dem der Ausgangspunkt in den Initiativen, den Emotionen, den Handlungen und Affekten des Kindes zu sehen ist. Hier braucht es jedoch in der Regel auch eine Veränderung des Rahmens, der die Bedingungen für die Kinder und ihre Begleitpersonen optimiert, um wirklich Beziehungsmomente kreieren zu können. Bei Simon war er für eine Zeit ein reizarmer Raum sowie bei Leon die kleinere Notgruppe. Bei zwei anderen Kindern war es eine Veränderung in der Ernährung, die die Möglichkeiten für die Kinder erhöht haben, in die wechselseitigen Austauschprozesse mit ihren Begleitpersonen zu gehen. Es ist hier wichtig, auf die Suche zu gehen, kreativ zu sein und nicht die Veränderungsverantwortung zu sehr auf das Kind zu belassen, denn das autistische Kind ist damit überfordert.


„Jeder Mensch ist in einem sehr realen Sinn eine Insel für sich, und er kann erst dann Brücken zu anderen Inseln bauen, wenn er erst zuallererst gewillt ist, er selbst zu sein, und wenn ihm das erlaubt wird.“*20 Rogers spricht hier einen wichtigen Aspekt in der Begleitung oder Therapie von Menschen an, die in ihrer persönlichen Entwicklung Unterstützung benötigen. Es geht nicht darum, Menschen mit Autismus als etwas diagnostiziertes und klassifiziertes zu betrachten, sondern den Menschen in seinem individuellen Sein, seinen individuellen Empfindungen und seinen individuellen Handlungen zu bestätigen, um ihm die Sicherheit zu vermitteln, sich wirklich in Beziehung zur personellen und dinglichen Welt zu setzen.*21


Über den Autor: Klaus Kokemoor, geboren 1962, ist Diplom Sozialpädagoge und Erzieher mit dem Schwerpunkt Heilpädagogik und hat zahlreiche Zusatzqualifikationen. Außerdem arbeitet er als Therapeut und ist Autor der Bücher „Autismus neu verstehen“ und „Das Kind, das aus dem Rahmen fällt“, sowie zahlreichen weiteren Publikationen in Sammelbänden und Fachzeitschriften. In der langjährigen Auseinandersetzung mit dem Thema Autismus beschäftigt er sich vor allem mit der zwischenmenschlichen Interaktion als Grundlage der Entwicklung.


*1 Vgl. Kokemoor 2018 S. 251 f.

*2 Vgl. William 1994 S. 22

*3 Vgl. Schäfer 1997 S. 38

*4 Vgl. Kokemoor 2016 S. 112

*5 Vgl. Bauer in Brisch S. 120

*6 Vgl. William 1994 S. 138 ff.

*7 Vgl. Aucouturier / Mendel 2001 S. 33

*8 Vgl. Dornes 2010 S. 153

*9 Vgl. Hobson 2003 S. 17 f.

*10 Vgl. Etienne Klemm 2003 S. 92

*11 Vgl. Kokemoor 2016 S. 167 ff.

*12 Vgl. Etienne Klemm 2003 S. 67

*13 Vgl. Hobson 2003 S. 123

*14 Vgl. Kokemoor 2018 S. 150 f.

*15 Vgl. Dornes 2010 S. 139

*16 Vgl. Williams 1994 S. 17

*17 Vgl. Kokemoor 2016 S. 234

*18 Vgl. Williams 1994 S. 50 f.

*19 Vgl. Hobson 2003 S. 23

*20 Vgl. Rogers, Carl R. (1961): S. 37

*21 Vgl. Rogers, Carl R. (1961): S. 69 Aucouturier, Bernard/Mendel, Gerard (2001): Was bewegt ein Kind? Ed. Doering, Bremen. Bauer, Joachim (2008): Das System der Spiegelneurone: Neurobiologisches Korrelat für intuitives Verstehen und Empathie. In: Brisch, Karl Heinz/Hellbrügge Theodor (Hg.): Der Säugling – Bindung, Neurobiologie und Gene. Klett-Cotta, Stuttgart, S. 117–123. Dornes, Martin (2010): Die Seele des Kindes. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main. Etienne Klemm, Ruth (1997): Die Kraft der inneren Bilder. Verlag Schwabe & Co AG, Basel. Hobsen, Peter (2003): Wie wir denken lernen. Verlag Walter, Düsseldorf und Zürich. Kokemoor, Klaus (2018): Das Kind, das aus dem Rahmen fällt. Wie Inklusion von Kindern mit besonderen Verhaltensweisen gelingt. Verlag Fischer & Gann, Munderfing. Kokemoor, Klaus (2017): Inklusion und die Bedeutung der eigenen Kraft. In: Platte, Andrea/Amirpur, Donja (Hg.): Handbuch Inklusive Kindheiten. UTB, Stuttgart. S. 381–396. Kokemoor, Klaus (2016): Autismus neu verstehen – Begegnung mit einer anderen Kultur. Verlag Fischer & Gann, Munderfing. Rogers, Carl R. (1976): Entwicklung der Persönlichkeit. Verlag Ernst Klett, Stuttgart. Schäfer, Susanne (1997): Sterne, Äpfel und rundes Glas. Verlag freies Geistesleben & Urachhaus, Stuttgart. Williams, Donna (1994): Wenn du mich liebst, bleibst du mir fern. Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg.



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