top of page
Lupe
Lexikon:

In Deinem großen Autismus-Lexikon von autismusspektrum.info findest du zahlreiche fachliche Informationen rund um das Autismus-Spektrum und allem, was dazu gehört. Über das Menu kannst Du die verschiedenen Einträge auswählen und bekommst alle Informationen, welche Dich interessieren.

Was ist Autismus?

Autismus ist klassifiziert als eine neurologische Entwicklungsstörung, die sich meist bereits in der frühen Kindheit manifestiert und das ganze Leben anhält. Menschen mit Autismus verarbeiten Informationen und ihre Umwelt anders als neurotypische Menschen, was sich in spezifischen Verhaltensweisen und Herausforderungen, aber auch besonderen Stärken und Interessen äußern kann. Autismus wird oft als Autismusspektrumstörung (ASS) bezeichnet, da die Ausprägung der Symptome von Mensch zu Mensch stark variieren kann. Es handelt sich also nicht um eine einheitliche Störung, sondern um ein breites Spektrum von individuellen Merkmalen.

Ursachen:

Die genaue Ursache für Autismus ist bisher nicht vollständig geklärt. Forschungen legen nahe, dass genetische Faktoren eine bedeutende Rolle spielen, da Autismus familiär gehäuft auftritt. Es gibt Hinweise darauf, dass eine Kombination von genetischen und umweltbedingten Faktoren zur Entstehung von Autismus führen kann. Zu den Umwelteinflüssen gehören beispielsweise pränatale Komplikationen oder bestimmte Einflüsse während der Schwangerschaft. Wichtig ist, dass Impfungen nachweislich keinen Zusammenhang mit Autismus haben – dies wurde in vielen wissenschaftlichen Studien widerlegt.

 

Autismus als Spektrum:

Autismus wird oft als Spektrum betrachtet, da die Ausprägungen sehr unterschiedlich sind. Im Spektrum finden sich Menschen, die stark beeinträchtigt sind und intensive Unterstützung im Alltag benötigen, ebenso wie Menschen mit hochfunktionalem Autismus, die in vielen Bereichen des Lebens erfolgreich sind. Früher wurde zwischen Asperger-Syndrom und anderen Formen des Autismus unterschieden, doch diese Begriffe werden heute nicht mehr als separate Diagnosen verwendet, sondern als Teil des gesamten Spektrums angesehen.

Hauptkriterien nach ICD-11

Die drei Hauptkriterien des Autismus umfassen laut ICD-11 (Internationale Klassifikation der Krankheiten) Beeinträchtigungen in folgenden Bereichen:

  • Soziale Interaktion: Menschen mit Autismus haben oft Schwierigkeiten, nonverbale Signale wie Mimik oder Körpersprache zu verstehen. Sie können Probleme haben, Beziehungen aufzubauen oder die sozialen „ungeschriebenen Regeln“ des Miteinanders zu verstehen.

  • Kommunikation: Bei einigen Betroffenen kann die Sprachentwicklung verzögert oder stark eingeschränkt sein, während andere fließend sprechen, aber Schwierigkeiten mit dem Verstehen von Ironie, Humor oder metaphorischen Ausdrücken haben. Viele Autisten bevorzugen direkte, wörtliche Sprache.

  • Interessen und Routinen: Menschen mit Autismus zeigen häufig sich wiederholende Verhaltensweisen oder Rituale. Sie können eine starke Vorliebe für Routinen haben und reagieren möglicherweise empfindlich auf Veränderungen. Zudem gibt es oft intensive Interessen, die sogenannten Spezialinteressen, denen sie leidenschaftlich nachgehen.

Im ICD-11 heißt es dazu außerdem:

"Autismus-Spektrum-Störungen sind gekennzeichnet durch dauerhafte Defizite in der Fähigkeit, gegenseitige soziale Interaktion und soziale Kommunikation zu initiieren und aufrechtzuerhalten, sowie durch eine Reihe eingeschränkter, sich wiederholender und unflexibler Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die für das Alter und den soziokulturellen Kontext der betreffenden Person eindeutig untypisch oder übertrieben sind. Die Störung tritt während der Entwicklungsphase auf, typischerweise in der frühen Kindheit, aber die Symptome können erst später vollständig zum Vorschein kommen, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Fähigkeiten übersteigen. Die Defizite sind so schwerwiegend, dass sie zu Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen führen und sind normalerweise ein durchgängiges Merkmal der Funktionsfähigkeit der betreffenden Person, das in allen Umgebungen erkennbar ist, obwohl sie je nach sozialem, schulischem oder anderem Kontext variieren können. Personen im Spektrum weisen eine vollständige Bandbreite an intellektuellen Funktionen und Sprachfähigkeiten auf."

Nebenkriterien ICD-11

Neben den Hauptkriterien für Autismus, welche sowohl im ICD-11 als auch im DSM-5 identisch sind, zählt der ICD-11 (2024) eine breite Palette weiterer (optionaler) Kriterien auf, welche für Autismus typisch sind und in denen ein Mangel oder Defizit vorliegen soll:

​​

  • Verständnis für, Interesse an oder unangemessene Reaktionen auf die verbale oder nonverbale soziale Kommunikation anderer.

  • Integration der gesprochenen Sprache mit typischen ergänzenden nonverbalen Hinweisen wie Augenkontakt, Gesten, Gesichtsausdrücken und Körpersprache. Diese nonverbalen Verhaltensweisen können auch in ihrer Häufigkeit oder Intensität reduziert sein.

  • Verständnis und Verwendung von Sprache in sozialen Kontexten und Fähigkeit, wechselseitige soziale Gespräche zu beginnen und aufrechtzuerhalten.

  • Soziales Bewusstsein, das zu einem Verhalten führt, das nicht angemessen an den sozialen Kontext angepasst ist.

  • Fähigkeit, sich in die Gefühle, Gefühlszustände und Einstellungen anderer hineinzuversetzen und darauf zu reagieren.

  • Gegenseitiges Teilen von Interessen.

  • Fähigkeit, typische Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen und aufrechtzuerhalten.

  • Anhaltend eingeschränkte, sich wiederholende und unflexible Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die für das Alter und den soziokulturellen Kontext der Person eindeutig untypisch oder übertrieben sind. Dazu können gehören:

  • Mangelnde Anpassungsfähigkeit an neue Erfahrungen und Umstände und die damit verbundene Belastung können durch geringfügige Änderungen der vertrauten Umgebung oder als Reaktion auf unerwartete Ereignisse hervorgerufen werden.

  • Unflexibles Festhalten an bestimmten Routinen. Diese können beispielsweise geografisch festgelegt sein, wie das Befolgen vertrauter Routen, oder eine genaue zeitliche Festlegung erfordern, wie etwa Essenszeiten oder Transportmöglichkeiten.

  • Übermäßiges Einhalten von Regeln (z. B. beim Spielen).

  • Übermäßige und anhaltende ritualisierte Verhaltensmuster (z. B. die Beschäftigung mit dem Anordnen oder Sortieren von Objekten in einer bestimmten Art und Weise), die keinem erkennbaren äußeren Zweck dienen.

  • Wiederholte und stereotype motorische Bewegungen, wie Ganzkörperbewegungen (z. B. Schaukeln), atypischer Gang (z. B. Gehen auf Zehenspitzen), ungewöhnliche Hand- oder Fingerbewegungen und Körperhaltung. Diese Verhaltensweisen kommen besonders häufig in der frühen Kindheit vor.

  • Anhaltende Beschäftigung mit einem oder mehreren speziellen Interessen, Teilen von Objekten oder bestimmten Arten von Reizen (einschließlich Medien) oder eine ungewöhnlich starke Bindung an bestimmte Objekte (ausgenommen typische Tröster).

  • Lebenslange übermäßige und anhaltende Überempfindlichkeit oder Unterempfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen oder ungewöhnliches Interesse an einem Sinnesreiz, wozu tatsächliche oder erwartete Geräusche, Licht, Texturen (insbesondere Kleidung und Nahrungsmittel), Gerüche und Geschmäcker, Hitze, Kälte oder Schmerz gehören können.

  • Die Störung beginnt während der Entwicklungsphase, typischerweise in der frühen Kindheit, die charakteristischen Symptome können sich jedoch erst später voll manifestieren, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Fähigkeiten übersteigen.

  • Die Symptome führen zu erheblichen Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Manche Personen mit Autismus-Spektrum-Störung können durch außergewöhnliche Anstrengung in vielen Kontexten angemessen funktionieren, sodass ihre Defizite für andere möglicherweise nicht erkennbar sind. In solchen Fällen ist eine Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung immer noch angebracht.

Kritisiert wird an den derzeitigen (Neben-) Kriterien des ICD-11, das nahezu alle Symptome als optional gelten und nicht genau definiert wird, in welcher Symptomschwere sie vorliegen müssen, damit eine Diagnose auf Autismus gerechtfertigt ist. 

Diagnosekriterien nach DSM-5

Laut den derzeitigen Diagnosekriterien des DSM-5 ( Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders - das Klassifikationssystem der American Psychiatric Association) [revidierte Fassung von 2022] darf die Diagnose auf Autismus gestellt werden, wenn folgende Kriterien erfüllt werden:

  • A) Anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion über verschiedene Kontexte hinweg. Diese manifestieren sich in allen der folgenden aktuell oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmalen:

  1. Defizite der sozial-emotionalen Gegenseitigkeit (z. B. ungewöhnliche soziale Annäherung; fehlende normale wechselseitige Konversation, verminderter Austausch von Interessen, Gefühlen und Affekten)

  2. Defizite im nonverbalen Kommunikationsverhalten, das in sozialen Interaktionen eingesetzt wird (z. B. weniger oder kein Blickkontakt bzw. Körpersprache; Defizite im Verständnis und Gebrauch von Gestik bis hin zu vollständigem Fehlen von Mimik und nonverbaler Kommunikation)

  3. Defizite in der Aufnahme, Aufrechterhaltung und dem Verständnis von Beziehungen (z. B. Schwierigkeiten, eigenes Verhalten an verschiedene soziale Kontexte anzupassen, sich in Rollenspielen auszutauschen oder Freundschaften zu schließen.

  • B) Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die sich in mindestens zwei der folgenden aktuell oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmalen manifestieren:

  1. Stereotype oder repetitive motorische Bewegungsabläufe; stereotyper oder repetitiver Gebrauch von Objekten oder Sprache (z. B. einfache motorische Stereotypien, Echolalie, Aufreihen von Spielzeug, Hin- und Herbewegen von Objekten, idiosynkratrischer Sprachgebrauch)

  2. Festhalten an Gleichbleibendem, unflexibles Festhalten an Routinen oder an ritualisierten Mustern (z. B. extremes Unbehagen bei kleinen Veränderungen, Schwierigkeiten bei Übergängen, rigide Denkmuster oder Begrüßungsrituale, Bedürfnis, täglich den gleichen Weg zu gehen)

  3. Hochgradig begrenzte, fixierte Interessen, die in ihrer Intensität oder ihrem Inhalt abnorm sind (z. B. starke Bindung an oder Beschäftigen mit ungewöhnlichen Objekten, extrem umschriebene oder perseverierende Interessen)

  4. Hyper- oder Hyporeaktivität auf sensorische Reize oder ungewöhnliches Interesse an Umweltreizen (z. B. scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber Schmerz oder Temperatur, ablehnende Reaktion auf spezifische Geräusche oder Oberflächen, exzessives Beriechen oder Berühren von Objekten)

  • C) Die Symptome müssen bereits in früher Kindheit vorliegen, können sich aber erst dann voll manifestieren, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Möglichkeiten überschreiten. (In späteren Lebensphasen können sie auch durch erlernte Strategien überdeckt werden.)

  • D) Die Symptome müssen klinisch bedeutsames Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verursachen.

  • E) Die Symptome können nicht besser durch eine Störung der Intelligenzentwicklung (geistige Behinderung) oder eine allgemeine Entwicklungsverzögerung erklärt werden. Intellektuelle Beeinträchtigungen und Autismus-Spektrum-Störungen treten häufig zusammen auf. Um die Diagnosen „Autismus-Spektrum-Störung“ und „Intellektuelle Entwicklungsstörung“ gemeinsam stellen zu können, sollte die soziale Kommunikationsfähigkeit unter dem aufgrund der allgemeinen Entwicklung erwarteten Niveau liegen.

Für die Beeinträchtigungen der sozialen Kommunikation und eingeschränkten, repetitiven Verhaltensweisen wird jeweils ein Schweregrad angegeben, welcher die aktuell benötigte Unterstützung beschreibt.

Geräuschempfindlichkeit

Eine häufig auftretende Begleiterscheinung bei Menschen mit Autismus ist die sensorische Überempfindlichkeit, insbesondere in Bezug auf Geräusche. Geräuschempfindlichkeit kann zu erheblichen Beeinträchtigungen im Alltag führen und das Wohlbefinden der Betroffenen stark beeinflussen.

Die genauen Ursachen der Geräuschempfindlichkeit bei Autismus sind noch nicht vollständig geklärt, aber Forscher vermuten, dass sie auf atypische Prozesse in der sensorischen Wahrnehmung und Reizverarbeitung zurückzuführen ist. Das Gehirn von Menschen mit Autismus verarbeitet sensorische Reize oft anders als das neurotypischer Menschen. Insbesondere die Verarbeitung von Geräuschen scheint übersteigert zu sein, was dazu führt, dass Alltagsgeräusche als überwältigend oder sogar schmerzhaft empfunden werden können.

 

Einige mögliche Ursachen für diese Überempfindlichkeit könnten sein:

  • Übererregbarkeit des Gehirns: Studien legen nahe, dass das Gehirn von autistischen Menschen eine erhöhte Erregbarkeit aufweist, was bedeutet, dass sensorische Reize intensiver wahrgenommen werden. Dies könnte erklären, warum normale Umgebungsgeräusche wie das Summen eines Kühlschranks oder das Ticken einer Uhr als störend oder belastend empfunden werden.

  • Defizite bei der sensorischen Filterung: Neurotypische Menschen sind in der Lage, unwichtige Reize, wie Hintergrundgeräusche, weitgehend auszublenden. Autistische Menschen haben jedoch oft Schwierigkeiten, diese sensorischen Informationen zu filtern, sodass sie von jedem Geräusch gleichermaßen stark beeinflusst werden.

  • Hyperakusis und Misophonie: Bei einigen Autisten treten Phänomene wie Hyperakusis (extreme Geräuschempfindlichkeit) oder Misophonie (starke emotionale Reaktionen auf bestimmte Geräusche) auf, die zu intensiven negativen Empfindungen führen können.

  • Auswirkungen der Geräuschempfindlichkeit

  • Die Auswirkungen der Geräuschempfindlichkeit bei Autismus sind vielfältig und können das alltägliche Leben erheblich erschweren. Manche Betroffene reagieren auf laute oder plötzliche Geräusche mit Stress, Angst oder Panik. In extremen Fällen kann dies zu sensorischen Überlastungen oder Meltdowns führen, einer intensiven Reaktion auf überwältigende Reize.

  • Stress und Angst: Geräuschempfindlichkeit kann dazu führen, dass Betroffene bestimmte Situationen oder Orte vermeiden, an denen sie laute oder unerwartete Geräusche erwarten. Dies kann die soziale Teilhabe einschränken, etwa den Besuch von Schulen, Arbeitsplätzen oder öffentlichen Verkehrsmitteln.

  • Konzentrationsprobleme: Wenn das Gehirn Schwierigkeiten hat, Geräusche zu filtern, kann dies die Fähigkeit zur Konzentration erheblich beeinträchtigen. Betroffene berichten oft, dass sie von leisen Hintergrundgeräuschen abgelenkt werden und es ihnen schwerfällt, sich auf eine Aufgabe zu fokussieren.

  • Soziale Isolation: Da sensorische Überlastungen in lauten oder überfüllten Umgebungen auftreten können, ziehen sich viele Betroffene lieber zurück, um sich vor unangenehmen Reizen zu schützen. Dies kann zu sozialer Isolation und Einsamkeit führen.

  • Emotionale Auswirkungen: Die ständige Auseinandersetzung mit überfordernden Geräuschen kann emotional belastend sein und zu chronischem Stress, Schlafstörungen oder sogar depressiven Verstimmungen führen.

 

Umgangsstrategien für Betroffene und Angehörige:

  • Der Umgang mit Geräuschempfindlichkeit bei Autismus erfordert ein hohes Maß an Verständnis und Anpassung. Es gibt jedoch Strategien und Hilfsmittel, die helfen

  • können, die sensorische Überforderung zu minimieren.

  • Geräuschunterdrückende Kopfhörer oder Ohrstöpsel: Diese Hilfsmittel sind eine einfache und effektive Möglichkeit, laute oder störende Geräusche zu reduzieren. Viele Menschen mit Autismus nutzen sie im Alltag, um unangenehme Geräusche auszufiltern und eine ruhige Umgebung zu schaffen.

  • Ruhige Rückzugsorte schaffen: Es ist wichtig, dass Betroffene Zugang zu ruhigen Räumen haben, in denen sie sich bei Bedarf zurückziehen können. Dies kann sowohl im häuslichen Umfeld als auch an Arbeitsplätzen oder in Schulen umgesetzt werden.

  • Planung und Vorbereitung: Für Situationen, die nicht vermieden werden können (z. B. Arztbesuche, öffentliche Verkehrsmittel), ist es hilfreich, im Voraus zu planen. Betroffene können Zeiten auswählen, in denen weniger Lärm zu erwarten ist, oder Maßnahmen wie das Mitführen von Geräuschschutzmaßnahmen ergreifen.

  • Therapie und sensorische Integration: In der Ergotherapie, insbesondere bei der sensorischen Integrationstherapie, lernen Betroffene, ihre sensorische Wahrnehmung zu regulieren und mit Überempfindlichkeiten umzugehen. Auch verhaltenstherapeutische Ansätze können helfen, Ängste vor bestimmten Geräuschen abzubauen.

  • Akzeptanz und Verständnis fördern: Für Angehörige und das soziale Umfeld von Menschen mit Autismus ist es wichtig, ein Verständnis für die Geräuschempfindlichkeit zu entwickeln. Geduld, Rücksichtnahme und Anpassungen im Alltag tragen dazu bei, den Betroffenen den Umgang mit dieser Herausforderung zu erleichtern.

Geschmackssinn bei Autismus

Der Geschmackssinn, medizinisch als Gustatorik bezeichnet, spielt für Autisten oft eine besonders wichtige Rolle. Viele autistische Menschen berichten von einer erhöhten Sensibilität gegenüber bestimmten Geschmacksrichtungen oder Texturen, während andere den Geschmack nur schwach oder verändert wahrnehmen. Diese sensorischen Abweichungen können dazu führen, dass Betroffene eine sehr eingeschränkte Auswahl an Nahrungsmitteln bevorzugen oder bestimmte Lebensmittel strikt ablehnen.

 

Erhöhte Sensibilität (Hypersensitivität):

Einige Autisten reagieren sehr empfindlich auf bestimmte Geschmacksrichtungen oder Texturen. Das bedeutet, dass sie Geschmäcker viel intensiver wahrnehmen, was dazu führen kann, dass sie stark auf Lebensmittel mit bitteren, scharfen oder sauren Aromen reagieren. Diese starke Geschmacksempfindlichkeit kann dazu führen, dass bereits leichte Veränderungen im Geschmack eines Gerichts unangenehm sind, wodurch sie spezifische Vorlieben entwickeln. Manche bevorzugen milde, wenig gewürzte Nahrungsmittel, da diese weniger Überreizung verursachen.

Ein Beispiel dafür wäre, dass ein autistisches Kind möglicherweise den Geschmack von Gemüse wie Brokkoli oder Spinat als extrem bitter wahrnimmt und deshalb diese Lebensmittel meidet. Auch bestimmte Texturen, wie die von matschigen oder körnigen Lebensmitteln, können als so unangenehm empfunden werden, dass sie diese ebenfalls verweigern.

 

Verminderte Sensibilität (Hyposensitivität):

Andererseits gibt es auch Menschen mit Autismus, die eine verminderte Sensibilität gegenüber dem Geschmack erleben. In diesem Fall nehmen sie Geschmacksrichtungen weniger intensiv wahr und bevorzugen daher möglicherweise stark gewürzte oder extrem scharfe Speisen, um eine sensorische Stimulation zu erfahren. Diese Art der Hyposensitivität kann dazu führen, dass sie sehr pikante, salzige oder süße Lebensmittel suchen, um den Mangel an Geschmacksempfindung zu kompensieren.

 

Weitere sensorische Besonderheiten:

Neben der eigentlichen Geschmacksempfindung spielt auch die sensorische Integration eine Rolle, also die Fähigkeit, Sinneseindrücke zu verarbeiten und zu integrieren. Oft sind es nicht nur der Geschmack, sondern auch andere Faktoren wie der Geruch, die Textur oder das Aussehen von Lebensmitteln, die für autistische Menschen eine wichtige Rolle spielen. Ein unangenehmer Geruch oder eine als unangenehm empfundene Textur kann dazu führen, dass ein Lebensmittel trotz seines Geschmacks abgelehnt wird.

 

Auswirkungen auf den Alltag:

Diese besonderen Geschmacksempfindungen können erhebliche Auswirkungen auf die Ernährung und das soziale Leben autistischer Menschen haben. Viele entwickeln sogenannte "selektive Essgewohnheiten", bei denen sie nur eine sehr begrenzte Auswahl an Lebensmitteln akzeptieren. Solche Vorlieben können besonders für Eltern von autistischen Kindern herausfordernd sein, da es oft schwierig ist, eine ausgewogene Ernährung zu gewährleisten.

Ein weiteres Problem kann das gemeinsame Essen in sozialen Kontexten darstellen. Während viele Menschen den Genuss von verschiedenen Speisen und das gemeinsame Essen schätzen, kann dies für Autisten mit sensorischen Problemen eine Quelle von Stress und Unwohlsein sein. Der Druck, bestimmte Nahrungsmittel zu probieren oder an geselligen Mahlzeiten teilzunehmen, kann für sie überwältigend sein.

Autismus bei Frauen und Mädchen

Autismus tritt bei Frauen und Mädchen häufig anders in Erscheinung als bei Männern, was dazu führt, dass er bei ihnen oft später oder gar nicht diagnostiziert wird. Es gibt mehrere Besonderheiten, die das Erkennen von Autismus bei Frauen und Mädchen erschweren:

  • Maskierung und Anpassung: Viele autistische Frauen und Mädchen entwickeln schon früh die Fähigkeit, ihre autistischen Merkmale zu verbergen oder zu "maskieren". Sie beobachten und imitieren das Verhalten ihrer neurotypischen Peers, um besser in soziale Situationen zu passen. Diese "soziale Maskierung" oder "Camouflaging" führt dazu, dass ihre autistischen Züge weniger auffällig sind und sie oft als schüchtern oder introvertiert wahrgenommen werden. Diese Anpassung kann allerdings sehr erschöpfend sein und oft zu Überlastung oder Burnout führen.

  • Andere (Spezial-) Interessen und Verhaltensmuster Während autistische Jungen häufig "klassische" Spezialinteressen wie Technik, Zahlen oder Züge haben, können Mädchen sich für sozial akzeptiertere Themen interessieren, wie etwa Bücher, Tiere oder Popkultur. Diese Interessen fallen weniger auf und werden oft als normal betrachtet, was zur Folge hat, dass autistische Mädchen weniger auffallen. Auch das stereotype Bild eines autistischen Menschen, der sich isoliert oder unsozial verhält, passt nicht immer auf Mädchen, die oft stärker darum bemüht sind, soziale Beziehungen zu pflegen, selbst wenn dies für sie herausfordernd ist.

  • Stärkere Betonung auf soziale Beziehungen: Autistische Frauen und Mädchen können oft ein starkes Interesse an sozialen Beziehungen zeigen, obwohl sie Schwierigkeiten haben, diese aufrechtzuerhalten. Sie investieren oft viel Energie in Freundschaften und versuchen, diese durch Nachahmung und intensive Analyse sozialer Verhaltensregeln zu bewahren. Dennoch haben sie häufig Schwierigkeiten mit den subtileren Aspekten sozialer Interaktionen, wie nonverbaler Kommunikation oder dem Erkennen von sozialen Hierarchien.

  • Emotionale und psychische Herausforderungen: Bei autistischen Frauen und Mädchen treten häufiger emotionale Schwierigkeiten wie Angststörungen, Depressionen oder Essstörungen auf. Diese können oft die autistischen Merkmale überlagern oder in den Vordergrund rücken, sodass die Diagnose Autismus verfehlt wird. Essstörungen, wie etwa Anorexia nervosa, werden bei autistischen Mädchen und Frauen überdurchschnittlich häufig diagnostiziert. Es wird vermutet, dass diese Störungen als ein Versuch der Kontrolle und Strukturierung von sensorischen oder emotionalen Überforderungen dienen.

  • Späte Diagnose oder FehldiagnosenAufgrund der beschriebenen Maskierung und der Unterschiede in den Symptomen werden viele autistische Frauen und Mädchen entweder viel später diagnostiziert oder mit anderen Störungen verwechselt, etwa mit sozialen Angststörungen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen oder ADHS. Häufig wird Autismus bei Frauen erst im Erwachsenenalter erkannt, wenn sie mit zunehmenden Anforderungen im Berufs- oder Privatleben Schwierigkeiten haben, ihre Anpassungsstrategien aufrechtzuerhalten.

  • Sensorische Empfindlichkeiten: Frauen und Mädchen mit Autismus berichten oft von sensorischen Empfindlichkeiten, insbesondere in Bezug auf Geräusche, Texturen von Kleidung oder Gerüche. Diese sensorischen Probleme können subtiler sein als bei autistischen Männern, aber dennoch tiefgreifend das Wohlbefinden beeinflussen. Mädchen sind manchmal besser darin, diese Empfindlichkeiten zu kompensieren oder zu verstecken, wodurch sie weniger offensichtlich werden.

 

Noch mehr Informationen zum Thema Autismus bei Frauen findest Du auch in unserem Fachjournal!

Weiblicher Autismus: Einfluss von Periode und Menopause

Die Periode (Menstruation) und die Menopause können einen erheblichen Einfluss auf die Symptomatik von autistischen Frauen haben. Veränderungen im Hormonspiegel während des Menstruationszyklus sowie die hormonellen Umstellungen während der Menopause können die Wahrnehmung, das emotionale Erleben und das Verhalten von Frauen mit Autismus beeinflussen. Hier einige der wichtigsten Aspekte:

 

1. Periode und Autismus

Während der Menstruation treten bei vielen Frauen, ob neurotypisch oder autistisch, hormonelle Schwankungen auf, die sich auf das Wohlbefinden auswirken können. Bei autistischen Frauen können diese hormonellen Veränderungen jedoch besonders intensiv empfunden werden und die Autismus-Symptome verstärken:

 

  • Erhöhte sensorische Empfindlichkeit: Viele autistische Frauen berichten von einer verstärkten sensorischen Empfindlichkeit während der Menstruation. Das kann bedeuten, dass sie auf Geräusche, Licht, Berührungen oder Gerüche noch stärker reagieren. Kleidung oder Hygieneprodukte (z. B. Tampons oder Binden) können als extrem unangenehm oder sogar schmerzhaft empfunden werden.

  • Emotionale Instabilität: Die hormonellen Schwankungen während des Zyklus können zu verstärkten Emotionen wie Reizbarkeit, Angst oder Depression führen. Dies kann in Kombination mit der ohnehin häufig vorhandenen emotionalen Dysregulation bei Autismus zu intensiveren Stimmungsschwankungen führen. Für viele autistische Frauen ist die Zeit kurz vor und während der Menstruation besonders herausfordernd, da es zu starker emotionaler Belastung kommen kann.

  • Exekutive Dysfunktion: Einige Frauen berichten von verstärkten Schwierigkeiten bei der Planung, Organisation und der Ausführung alltäglicher Aufgaben in den Tagen vor und während der Menstruation. Diese sogenannte "exekutive Dysfunktion" ist ein häufiges Merkmal bei Autismus und kann durch die hormonellen Schwankungen intensiver wahrgenommen werden.

  • Schmerzempfindlichkeit: Viele autistische Frauen haben eine höhere oder niedrigere Schmerzschwelle. Während der Menstruation kann die Wahrnehmung von Schmerzen, wie Menstruationskrämpfen, verstärkt oder verändert werden. Dies führt häufig dazu, dass der Umgang mit menstruationsbedingten Schmerzen für sie eine zusätzliche Herausforderung darstellt.

 

2. Menopause und Autismus

Die Menopause ist eine Phase, in der sich die Hormonproduktion verändert, insbesondere Östrogen und Progesteron nehmen ab. Diese hormonellen Umstellungen können auch die Autismus-Symptome beeinflussen:

 

  • Verstärkte sensorische und emotionale Reaktionen: Ähnlich wie während der Menstruation berichten viele autistische Frauen von verstärkten sensorischen Empfindlichkeiten und emotionaler Instabilität in den Wechseljahren. Die sinkenden Östrogenspiegel können zu Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit, Angst oder Depression führen, was bei Frauen mit Autismus häufig intensiver erlebt wird.

  • Erhöhte Ängste und Depressionen: Autistische Frauen erleben generell häufiger psychische Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen. Während der Menopause, wenn Hormone wie Östrogen und Progesteron stark abnehmen, können diese emotionalen Schwierigkeiten deutlich zunehmen. Einige Frauen berichten von einer Zunahme von Panikattacken oder verstärkten Depressionen in dieser Phase.

  • Verstärkte Erschöpfung und sensorische Überlastung: Die körperlichen und psychischen Symptome der Menopause, wie Hitzewallungen, Schlafstörungen und Erschöpfung, können bei autistischen Frauen zu einer Überlastung führen. Sie haben möglicherweise größere Schwierigkeiten, sich nach sensorischer Überstimulation oder emotionalem Stress zu erholen.

  • Veränderte kognitive Fähigkeiten: Während der Menopause kann es bei einigen Frauen zu sogenannten "Hirnnebel" oder kognitiven Beeinträchtigungen kommen, was bedeutet, dass Gedächtnis, Konzentration und Denkfähigkeit beeinträchtigt sein können. Dies kann bei autistischen Frauen, die ohnehin Schwierigkeiten mit exekutiven Funktionen haben, zusätzliche Herausforderungen mit sich bringen.

Asperger-Syndrom

Das Asperger-Syndrom ist eine Form von Autismus und gehört mittlerweile zur sogenannten Autismusspektrumstörung (ASS). Menschen mit Asperger-Syndrom haben ähnliche Schwierigkeiten in den Bereichen soziale Interaktion und Kommunikation wie andere Menschen mit Autismus, zeigen jedoch keine oder nur minimale Verzögerungen in der Sprachentwicklung und haben keine kognitiven Einschränkungen. Das Asperger-Syndrom wurde erstmals in den 1940er Jahren von dem österreichischen Kinderarzt Hans Asperger beschrieben, der Kinder beobachtete, die Schwierigkeiten im sozialen Umgang hatten, aber gleichzeitig oft außergewöhnliche Fähigkeiten in bestimmten Bereichen zeigten. Hans Asperger steht mittlerweile wegen seinen Aktivitäten hinsichtlich des Nationalsozialismus stark in der Kritik und viele Menschen mit Autismus lehnen deswegen die Bezeichnung „Asperger-Syndrom“ für sich ab.

 

Obwohl der Begriff "Asperger-Syndrom" in früheren Diagnosemanualen verwendet wurde, wird er heute unter der allgemeinen Bezeichnung Autismusspektrumstörung zusammengefasst, sowohl im ICD-11 als auch im DSM-5. Dennoch wird der Begriff häufig weiterhin verwendet, um eine bestimmte Gruppe innerhalb des Spektrums zu beschreiben. Auch die Diagnose auf das Asperger-Syndrom wird insbesondere im deutschsprachigen Raum weiterhin gestellt, da es aktuell (2024) noch keine gültige Übersetzung des ICD-11 gibt.

Atypischer Autismus

Atypischer Autismus ist eine Form von Autismus, die nicht alle typischen Kriterien der Autismusspektrumstörung (ASS) erfüllt und daher als „atypisch“ bezeichnet wird. Während klassische Autismusformen wie frühkindlicher Autismus oder das Asperger-Syndrom klar definierte Merkmale aufweisen, gibt es bei atypischem Autismus einige Abweichungen. Die Betroffenen zeigen zwar ähnliche Verhaltensweisen wie Menschen mit anderen Autismusformen, aber entweder treten die Symptome erst nach dem 3. Lebensjahr auf oder es fehlen bestimmte Kernsymptome.

 

Atypischer Autismus ist in der ICD-10, dem internationalen Klassifikationssystem für Krankheiten, unter der Kategorie F84.1 gelistet. Oft wird diese Diagnose verwendet, wenn die Symptomatik nicht vollständig in die gängigen Autismusdiagnosen passt, die Diagnose aber dennoch notwendig ist, um Unterstützung und Therapie für die Betroffenen zu gewährleisten.

 

Merkmale des atypischen Autismus:

Die Merkmale des atypischen Autismus ähneln denen anderer Autismusformen, können jedoch in ihrer Ausprägung und Kombination variieren. Die Hauptmerkmale betreffen folgende Bereiche:

  • Soziale Interaktion: Menschen mit atypischem Autismus haben oft Schwierigkeiten, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen oder soziale Signale wie Mimik und Körpersprache zu verstehen. Sie können distanziert oder desinteressiert wirken und tun sich schwer damit, auf zwischenmenschliche Interaktionen angemessen zu reagieren.

  • Kommunikation: Wie bei anderen Autismusformen können auch bei atypischem Autismus Sprachprobleme oder Schwierigkeiten mit der verbalen Kommunikation auftreten. Manche Betroffene entwickeln die Sprache verspätet, während andere zwar gut sprechen können, aber Schwierigkeiten haben, den richtigen Ton oder die soziale Angemessenheit der Sprache einzusetzen.

  • Verhaltensweisen und Interessen: Häufig zeigen Menschen mit atypischem Autismus sich wiederholende oder stereotype Verhaltensweisen, wie zum Beispiel das ständige Wiederholen bestimmter Bewegungen oder Handlungen. Sie können auch stark auf Routinen angewiesen sein und reagieren oft empfindlich auf Veränderungen. Es gibt oft eine Neigung zu speziellen Interessen, die mit großer Intensität verfolgt werden.

 

Unterschiede zum klassischen Autismus:

Im Vergleich zu anderen Autismusformen weist der atypische Autismus folgende Besonderheiten auf:

  • Späterer Beginn der Symptome: Beim klassischen frühkindlichen Autismus treten die Symptome in der Regel vor dem 3. Lebensjahr auf. Bei atypischem Autismus können sich die ersten Anzeichen erst nach dem 3. Lebensjahr zeigen, was eine der zentralen diagnostischen Unterscheidungen ist.

  • Unvollständige Symptomatik: Bei klassischem Autismus sind die drei Kernbereiche – soziale Interaktion, Kommunikation und wiederholte Verhaltensweisen – in der Regel alle stark betroffen. Beim atypischen Autismus kann es sein, dass nicht alle drei Bereiche gleichzeitig betroffen sind oder dass die Symptome milder ausgeprägt sind.

  • Vielfältige Ausprägungen: Atypischer Autismus ist besonders variabel. Manche Menschen haben nur leichte soziale Schwierigkeiten, andere zeigen auffällige Verhaltensweisen, aber gute sprachliche und kognitive Fähigkeiten. Diese Vielfalt macht die Diagnose schwieriger und komplexer.

 

A-typischer Autismus tritt besonders häufig mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung auf. Im ICD-11 ist sie unter dem Diagnoseschlüssel 6A02.Y (Sonstige näher bezeichnete Störungen aus dem Autismusspektrum) gelistet.

Kanner-Syndrom

Das Kanner-Syndrom, auch frühkindlicher Autismus genannt, ist eine der frühesten beschriebenen Formen von Autismus. Es wurde in den 1940er Jahren von dem US-amerikanischen Kinderpsychiater Leo Kanner erstmals identifiziert, der die Symptome einer Gruppe von Kindern dokumentierte, die auffällige Schwierigkeiten in den Bereichen soziale Interaktion, Kommunikation und Verhalten zeigten. Das Kanner-Syndrom gilt als schwere Form der Autismusspektrumstörung (ASS) und beginnt in der frühen Kindheit, oft vor dem 3. Lebensjahr.

 

Im Gegensatz zu anderen Formen von Autismus, wie dem Asperger-Syndrom, sind beim Kanner-Syndrom häufig auch sprachliche und kognitive Fähigkeiten beeinträchtigt. Die Kinder zeigen deutliche Verzögerungen in der Sprachentwicklung und haben oft Probleme, Sprache für soziale Kommunikation zu nutzen. Gleichzeitig zeigen sie eine eingeschränkte Bandbreite von Interessen und wiederholte Verhaltensmuster.

 

Die Symptome des Kanner-Syndroms lassen sich in drei Kernbereiche unterteilen: soziale Interaktion, Kommunikation und repetitive Verhaltensweisen.

  • Beeinträchtigung der sozialen Interaktion: Kinder mit Kanner-Syndrom haben erhebliche Schwierigkeiten, mit anderen Menschen zu interagieren. Oft vermeiden sie Augenkontakt, zeigen wenig Interesse an sozialen Beziehungen und können Schwierigkeiten haben, Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen, einschließlich zu ihren Eltern. Sie scheinen häufig in ihrer eigenen Welt gefangen zu sein und reagieren nicht wie erwartet auf soziale Reize oder emotionale Signale.

  • Probleme in der Kommunikation: Ein zentrales Merkmal des Kanner-Syndroms ist die deutliche Verzögerung oder der komplette Mangel an Sprache. Viele Kinder entwickeln nur eine eingeschränkte Sprachfähigkeit oder bleiben nonverbal. Wenn sie sprechen, neigen sie dazu, die Sprache nicht zur Kommunikation mit anderen zu nutzen, sondern verwenden sie oft in ungewöhnlichen Weisen, z. B. durch das Wiederholen von Worten oder Sätzen, das sogenannte Echolalie. Auch der Gebrauch von Gesten oder Körpersprache zur Kommunikation ist oft beeinträchtigt.

  • Repetitive und stereotype Verhaltensweisen: Kinder mit Kanner-Syndrom zeigen häufig sich wiederholende, stereotype Bewegungen oder Rituale, wie z. B. das Flattern mit den Händen, das Drehen von Gegenständen oder das monotone Wiederholen bestimmter Aktivitäten. Sie können eine starke Vorliebe für Routine und Ordnung haben, und selbst kleine Veränderungen in ihrer Umgebung können zu erheblichem Stress oder Verhaltensproblemen führen. Sie entwickeln oft intensive, aber enge Interessen, die sie übermäßig beschäftigen.

 

Neben den Hauptsymptomen gibt es häufig zusätzliche Merkmale oder Begleiterscheinungen, die das Kanner-Syndrom charakterisieren:

  • Sensorische Empfindlichkeiten: Viele Kinder mit Kanner-Syndrom reagieren überempfindlich auf sensorische Reize wie laute Geräusche, helles Licht oder bestimmte Texturen. Diese Überempfindlichkeiten können das tägliche Leben erheblich erschweren.

  • Kognitive Beeinträchtigungen: Im Vergleich zu anderen Formen von Autismus haben viele Menschen mit Kanner-Syndrom kognitive Einschränkungen. Schätzungen zufolge leiden etwa 50-70 % der Betroffenen an einer geistigen Behinderung, die sich in Lern- und Denkproblemen äußern kann.

  • Verzögerungen in der motorischen Entwicklung: Manche Kinder zeigen auch Probleme mit der Fein- oder Grobmotorik. Sie können ungeschickt wirken oder Schwierigkeiten haben, bestimmte Bewegungen zu koordinieren.

 

Genau wie das Asperger-Syndrom wird das Kanner-Syndrom inzwischen und im Rahmen einer modernen Klassifikation nach ICD-11 und dem DSM-5 der Autismus-Spektrum-Störung zugeordnet.

Spezialinteressen

Spezialinteressen sind stark ausgeprägte, eng-umgrenzte Interessen, die häufig für das jeweilige Alter stark ungewöhnliche Gebiete betreffen. Häufige Spezialinteressen sind aus dem naturwissenschaftlich-technischen Bereich oder betreffen Themen wie Astronomie, Mathematik oder Informatik über kreative Hobbys wie Musik oder Kunst bis hin zu Nischenbereichen wie die Geschichte eines bestimmten Landes, Zugfahrpläne oder das Sammeln von Informationen über bestimmte Tierarten. Auch Philosophie und Psychologie können typische Spezialinteressen sein. Menschen im Autismus-Spektrum investieren oft viel Zeit, Energie und Gedanken in diese spezifischen Themen. Während neurotypische Menschen normalerweise eine Vielzahl von Interessen entwickeln und verfolgen, sind Spezialinteressen bei Menschen mit Autismus oft eng umgrenzt und werden mit einer gewissen Ausschließlichkeit verfolgt.

 

Spezialinteressen haben für Menschen mit Autismus eine enorme persönliche und emotionale Bedeutung. Sie erfüllen nicht nur eine Freizeitbeschäftigung, sondern sind oft ein wichtiger Mechanismus, um die Welt zu verstehen und mit ihr zu interagieren. Sie können in vielerlei Hinsicht eine positive Rolle spielen und der Selbstregulation und dem Stressabbau dienen. Die Beschäftigung mit ihrem Spezialinteresse gibt autistischen Menschen oft Struktur, Stabilität und ein Gefühl der Sicherheit in einer für sie unvorhersehbar wirkenden Welt. Negative Aspekte von Spezialinteressen können hingegen die Unterentwicklung anderer Fähigkeiten oder die mangelnde Fokussierung auf Schule und Ausbildung sein.

 

Weitere Einschränkungen oder Probleme im Zusammenhang mit Spezialinteressen können sein:

  • Soziale Isolation: Menschen mit Autismus können sich so stark in ihre Spezialinteressen vertiefen, dass sie soziale Kontakte vernachlässigen oder sich von anderen isolieren. Dies kann insbesondere dann problematisch sein, wenn ihre Interessen von den Menschen in ihrer Umgebung nicht geteilt oder verstanden werden.

  • Einschränkungen im Alltag: Spezialinteressen können so intensiv sein, dass sie den Alltag der Betroffenen dominieren und andere wichtige Aspekte des Lebens, wie schulische oder berufliche Verpflichtungen, vernachlässigt werden. Wenn eine Balance zwischen den Interessen und den alltäglichen Anforderungen nicht gefunden wird, kann dies zu Schwierigkeiten führen.

  • Unverständnis der Umwelt: Da manche Spezialinteressen für Außenstehende ungewöhnlich oder schwer verständlich erscheinen, kann es zu Missverständnissen oder Vorurteilen kommen. Menschen im Autismus-Spektrum stoßen manchmal auf Ablehnung oder Unverständnis, wenn sie über ihre intensiven Interessen sprechen oder sich intensiv damit beschäftigen. Häufig führt das Monologisieren über die Spezialthemen auch zu Anfeindungen oder Mobbing.

Stereotype Verhaltensweisen und Routinen

Ein zentrales Merkmal von Autismus sind stereotype Verhaltensweisen und Routinen. Diese Verhaltensmuster sind oft wiederholend und können von Außenstehenden als ungewöhnlich oder scheinbar sinnbefreit wahrgenommen werden, haben jedoch für Menschen im Autismus-Spektrum eine große Bedeutung. Sie bieten Struktur, Stabilität und Sicherheit in einer oft unvorhersehbar wirkenden Welt.

 

Was sind stereotype Verhaltensweisen?

Stereotype Verhaltensweisen bei Autismus sind wiederholende und gleichförmige Handlungen oder Bewegungen, die scheinbar ohne Zweck wiederholt werden. Diese Verhaltensmuster werden auch als Stereotypien bezeichnet und können sehr unterschiedlich aussehen. Sie reichen von einfachen körperlichen Bewegungen bis hin zu komplexen Handlungen, die immer wieder auf dieselbe Weise ausgeführt werden. Typische Beispiele für stereotype Verhaltensweisen sind:

  • Motorische Stereotypien: Dazu gehören Bewegungen wie Händeflattern, das Schaukeln des Körpers, das Drehen oder Klopfen mit den Händen, Fingerschnippen oder das Drehen von Gegenständen. Diese Bewegungen werden oft rhythmisch wiederholt und können bei Stress oder Aufregung verstärkt auftreten.

  • Wiederholende Handlungen: Manche Menschen mit Autismus wiederholen bestimmte Handlungen oder Rituale, wie das ständige Öffnen und Schließen von Türen, das Sortieren von Objekten nach bestimmten Regeln oder das Aufreihen von Spielzeug in einer exakten Ordnung.

  • Verbale Stereotypien: Wiederholungen von Worten, Sätzen oder bestimmten Lauten, auch wenn sie für die Situation nicht relevant sind. Ein Beispiel ist das Wiederholen von Werbeslogans oder Fernsehzitaten (Echolalie/Palilalie).

 

Was sind Routinen bei Autismus?

Routinen und ritualisierte Verhaltensweisen sind ebenfalls ein häufiges Merkmal von Autismus. Viele Menschen im Autismus-Spektrum bevorzugen klare, vorhersehbare Tagesabläufe und fühlen sich unwohl oder gestresst, wenn diese Routinen gestört oder unterbrochen werden. Routinen können auf verschiedene Bereiche des Lebens angewendet werden. Dazu zählen:

  • Tagesabläufe: Manche Menschen mit Autismus haben sehr klare Vorstellungen darüber, wie der Tag verlaufen soll – wann sie essen, sich anziehen, zur Schule oder zur Arbeit gehen. Schon kleine Änderungen im Tagesablauf, wie eine verspätete Mahlzeit oder eine unerwartete Unterbrechung, können erhebliche Unruhe auslösen.

  • Rituale: Ein weiteres Beispiel sind bestimmte Rituale, die sie vor bestimmten Aufgaben oder Aktivitäten durchführen. Das könnte das wiederholte Überprüfen von Objekten, das Zählen von Schritten oder das Befolgen bestimmter Bewegungsabfolgen sein, bevor eine Handlung durchgeführt wird.

  • Feste Wege und Abläufe: Viele Menschen mit Autismus haben feste Vorstellungen darüber, wie sie alltägliche Aufgaben erledigen, sei es beim Anziehen, beim Zubereiten von Speisen oder beim Gehen zu bestimmten Orten. Änderungen dieser gewohnten Abläufe können Irritationen oder Angst hervorrufen.

 

Routinen geben ihnen Struktur und Vorhersehbarkeit, was besonders wichtig ist, da viele autistische Menschen Schwierigkeiten haben, mit plötzlichen Veränderungen oder unvorhersehbaren Situationen umzugehen.

 

Warum sind stereotype Verhaltensweisen und Routinen so wichtig?

Für Menschen im Autismus-Spektrum bieten stereotype Verhaltensweisen und Routinen mehrere Funktionen, die tief mit ihrer Art, die Welt zu erleben, verbunden sind. Folgende Bedeutungen sind häufig:

 

  • Selbstregulation: Viele stereotype Verhaltensweisen helfen, Emotionen und sensorische Überlastungen zu regulieren. Menschen mit Autismus können empfindlicher auf sensorische Reize wie Geräusche, Licht oder Berührungen reagieren. Wiederholende Bewegungen oder Handlungen können beruhigend wirken und ihnen helfen, Stress oder Angst zu bewältigen.

  • Struktur und Sicherheit: Routinen bieten Sicherheit und Verlässlichkeit in einer Welt, die für Menschen mit Autismus oft chaotisch und unvorhersehbar ist. Sie wissen, was sie erwarten können, und dies verringert das Gefühl der Unsicherheit. Veränderungen oder Unterbrechungen ihrer Routinen können Unbehagen oder sogar Panik auslösen, weil sie das Gefühl der Kontrolle verlieren.

  • Fokussierung und Ordnung: Stereotype Verhaltensweisen können auch als Methode dienen, um sich auf eine bestimmte Aufgabe zu konzentrieren oder Gedanken zu ordnen. Wiederholte Bewegungen oder Handlungen können beruhigen und helfen, sich mental auf das Wesentliche zu konzentrieren.

  • Selbststimulation: Manche Menschen mit Autismus führen stereotype Verhaltensweisen als eine Form der Selbststimulation, dem sogenannten Stimming, durch, insbesondere wenn sie unterreizt sind oder sich langweilen. Diese Stimulation kann ihnen helfen, sich wach und konzentriert zu fühlen.

 

Während stereotype Verhaltensweisen und feste Routinen für Menschen mit Autismus oft eine wichtige Funktion erfüllen, können sie für Außenstehende manchmal als störend oder befremdlich wahrgenommen werden. Diese Missverständnisse führen häufig zu Herausforderungen im Alltag. Außenstehende, die mit Autismus nicht vertraut sind, könnten stereotype Verhaltensweisen als „unnormal“ oder „merkwürdig“ betrachten und nicht verstehen, dass sie eine wichtige Funktion für die Betroffenen erfüllen. Es ist deshalb sinnvoll, mehr Bewusstsein für die Bedeutung dieser Verhaltensweisen zu schaffen und diese nicht als störend oder unangebracht zu bewerten.

 

Einschränkungen im Alltag: In manchen Fällen können stereotype Verhaltensweisen und strikte Routinen allerdings so dominierend werden, dass sie den Alltag der Betroffenen einschränken oder zu Schwierigkeiten in Schule, Beruf oder im sozialen Leben führen. Zum Beispiel könnten sich Kinder im Autismus-Spektrum weigern, zur Schule zu gehen, wenn der übliche Schulweg geändert wird, oder sie könnten sich in bestimmten Situationen sozial zurückziehen, wenn ihre routinierten Abläufe nicht eingehalten werden.

Exekutive Dysfunktion

Exekutive Funktionen sind eine Reihe von kognitiven Fähigkeiten, die es uns ermöglichen, unser Verhalten zu steuern, komplexe Aufgaben zu planen, uns an neue Situationen anzupassen und unsere Gedanken, Handlungen und Emotionen zu regulieren. Neurobiologisch verorten Experten sie vor allem im präfrontalen Kortex des Gehirns. Bei Menschen im Autismus-Spektrum sind die Exekutiven Funktionen in aller Regel gestört. Während die Kernmerkmale von Autismus inzwischen gut bekannt sind werden die Exekutiven Funktionen jedoch nur selten diskutiert, trotz ihrer wahrscheinlich immensen Rolle für das Verständnis der kognitiven Herausforderungen, denen viele Menschen im Autismus-Spektrum gegenüberstehen.

 

Exekutive Funktionen umfassen Fähigkeiten wie:

 

  • Arbeitsgedächtnis (Informationen kurzfristig speichern und manipulieren)

  • Kognitive Flexibilität (die Fähigkeit, den eigenen Denkansatz anzupassen)

  • Planung und Organisation (Aufgaben in eine logische Reihenfolge bringen)

  • Impulskontrolle (unmittelbare Reaktionen oder Handlungen zu unterdrücken)

  • Zeitmanagement (Verantwortung für Aufgaben in einem bestimmten Zeitraum übernehmen)

 

Eine Störung oder Schwäche in diesen Bereichen wird als exekutive Dysfunktion bezeichnet. Dies betrifft vor allem Menschen, die Schwierigkeiten haben, sich an verändernde Umstände anzupassen, Aufgaben zu strukturieren oder langwierige Projekte ohne Überforderung anzugehen.

 

Exekutive Dysfunktion bei Autismus:

Menschen mit Autismus zeigen häufig Schwierigkeiten in diesen exekutiven Funktionen. Sie können etwa Probleme haben, ihre täglichen Aufgaben zu organisieren, Übergänge zwischen Aktivitäten zu bewältigen, ihre Aufmerksamkeit zu lenken oder Impulse zu kontrollieren. Diese Probleme können den Alltag erheblich erschweren und sich auf viele Lebensbereiche auswirken – sei es in der Schule, am Arbeitsplatz oder in sozialen Beziehungen. Auch bei der Herausbildung der sogenannten Spezialinteressen spielt die Exekutive Dysfunktion eine Rolle.

 

Merkmale der Exekutiven Dysfunktion bei Autismus:

  • Schwierigkeiten mit Planung und Organisation: Kinder und Erwachsene im Autismus-Spektrum können Schwierigkeiten haben, Aktivitäten zu planen oder in eine logische Reihenfolge zu bringen. Das kann einfache Alltagsaufgaben wie das Vorbereiten für die Schule oder das Arbeiten an einem Projekt erheblich erschweren.

  • Probleme mit dem Arbeitsgedächtnis: Viele Menschen mit Autismus finden es herausfordernd, Informationen im Gedächtnis zu behalten, während sie gleichzeitig eine Aufgabe ausführen. Dies kann sich in der Schule zeigen, wenn Schüler Schwierigkeiten haben, sich Anweisungen zu merken oder komplexe Problemlösungen zu verfolgen.

  • Schwierigkeiten mit kognitiver Flexibilität: Menschen mit Autismus haben oft ein Bedürfnis nach festen Routinen und Strukturen. Veränderungen oder unerwartete Ereignisse können Stress auslösen, da kognitive Flexibilität – die Fähigkeit, sich an neue oder unerwartete Situationen anzupassen – oft beeinträchtigt ist.

  • Impulskontrolle und Selbstregulation: Die Impulskontrolle fällt vielen Menschen mit Autismus schwer, was dazu führen kann, dass sie in sozialen Situationen unangemessen reagieren oder Schwierigkeiten haben, ihre Emotionen zu regulieren. Diese Impulsivität kann in Gruppenumgebungen wie Schulen oder am Arbeitsplatz problematisch sein.

  • Zeitmanagement: Das Zeitgefühl kann bei Menschen mit ASS gestört sein. Sie neigen dazu, Aufgaben entweder zu schnell abzuschließen oder sich in Details zu verlieren, was es schwierig macht, eine angemessene Zeit für die Erledigung von Aufgaben abzuschätzen.

 

Ursachen der Exekutiven Dysfunktion:

Es gibt keine eindeutige Ursache für die exekutiven Funktionsstörungen bei Menschen mit Autismus, aber es wird vermutet, dass sie mit den neurologischen Unterschieden im Gehirn zusammenhängen, die auch für die anderen Symptome des Autismus verantwortlich sind. Studien deuten darauf hin, dass die präfrontalen Hirnregionen, die für die exekutiven Funktionen verantwortlich sind, bei Menschen mit Autismus anders strukturiert oder weniger aktiv sind. Dies stellt zudem eine Überschneidung mit ADHS dar. Aus diversen Untersuchungen ist bekannt, dass die Komorbidität zwischen Autismus und ADHS bei durchschnittlich 50% zu liegen scheint. Zudem wird angenommen, dass genetische und umweltbedingte Faktoren ebenfalls eine Rolle spielen.

 

Hilfestellungen:

Während exekutive Dysfunktionen bei Menschen mit Autismus Herausforderungen im Alltag darstellen, gibt es viele Ansätze, um diese Schwierigkeiten zu bewältigen. Hier sind einige Ansätze, die sich als hilfreich erweisen können:

  • Visuelle Hilfsmittel und Strukturen: Klare, visuelle Anweisungen, wie z.B. Pläne oder To-Do-Listen, helfen Menschen mit Autismus, Aufgaben zu strukturieren und den Überblick zu behalten.

  • Routine und Vorhersehbarkeit: Ein klarer Tagesablauf, der Veränderungen minimiert, hilft vielen Menschen mit Autismus, sich sicherer zu fühlen und besser mit ihren Aufgaben zurechtzukommen.

  • Training der Exekutiven Funktionen: Kognitive Trainingsprogramme oder Therapien können helfen, spezifische Fähigkeiten wie das Arbeitsgedächtnis oder die Impulskontrolle zu stärken. Dies kann besonders nützlich für Kinder mit Autismus sein, die in der Schule Schwierigkeiten haben. Auch regelmäßiger Sport scheint einen positiven Einfluss auf die Exekutiven Funktionen zu haben.

  • Verhaltenstherapie: Durch gezielte Verhaltenstherapien können Menschen mit Autismus lernen, Strategien zu entwickeln, um mit ihren exekutiven Dysfunktionen umzugehen und ihre Selbstregulationsfähigkeiten zu verbessern. Dabei geht es nicht um ein „wegtherapieren" von Autismus!

  • Unterstützung im schulischen und beruflichen Umfeld: Anpassungen wie verlängerte Zeit für Aufgaben, spezielle Lernstrategien oder ein ruhiges Arbeitsumfeld können helfen, den Druck auf Menschen mit exekutiven Funktionsstörungen zu verringern und ihnen zu helfen, ihr volles Potenzial auszuschöpfen.

PDA (Pathological Demand Avoidance)

Autismus-Spektrum-Störungen sind gekennzeichnet durch Unterschiede in sozialen Interaktionen, Kommunikation und Verhaltensmustern. Innerhalb dieses Spektrums existieren jedoch viele Subtypen und Profile, die die Vielfalt der autistischen Erfahrungen widerspiegeln. Ein solches Profil, das in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erhalten hat, ist das Pathologische Vermeidungssyndrom (Pathological Demand Avoidance, PDA). Dieser Begriff beschreibt ein Verhaltensmuster, bei dem die Person extreme Vermeidungshaltungen gegenüber den Anforderungen des Alltags zeigt, auch wenn diese objektiv gering oder harmlos erscheinen.

 

Was ist Pathologische Vermeidung (PDA)?

PDA wird als Teil des Autismus-Spektrums betrachtet und beschreibt eine Form von Verhaltensweisen, bei denen die Person eine extrem hohe Sensibilität gegenüber Forderungen und Erwartungen zeigt. Diese Vermeidung geht weit über die normalen Schwierigkeiten hinaus, die viele autistische Menschen mit Änderungen oder Anforderungen haben. Menschen mit PDA wehren sich oft auf intensive und manchmal auch kreative Weise gegen jegliche Form von Aufforderungen, einschließlich derer, die sie sich selbst setzen.

 

Ein zentrales Merkmal von PDA ist der enorme Stress oder die Angst, die durch die Wahrnehmung von Anforderungen ausgelöst wird. Diese Anforderungen können von außen (z. B. von Eltern, Lehrern oder Vorgesetzten) oder sogar von innen (wie persönliche Ziele oder Erwartungen) kommen.

 

Hauptmerkmale von PDA:

  • Extremes Vermeidungsverhalten: Menschen mit PDA empfinden jegliche Form von Anforderungen – selbst banale alltägliche Aufgaben – als überwältigend und reagieren darauf mit Vermeidung. Dies kann sich in offener Ablehnung äußern, aber auch in subtileren Formen wie Ablenkungsmanövern oder Ausreden.

  • Widerstand gegen direkte Erwartungen: Direkte Aufforderungen oder klare Anforderungen können zu intensiven Verweigerungsreaktionen führen. Dies kann sich durch Verweigerung, Trotzen, Fluchtverhalten oder sogar aggressives Verhalten äußern.

  • Kreative Vermeidung: Kinder und Erwachsene mit PDA zeigen oft besonders erfinderische Wege, um Anforderungen zu vermeiden. Dazu gehören charmantes Verhalten, Humor oder Ablenkungen, um die Situation zu entschärfen oder zu umgehen.

  • Extremes Bedürfnis nach Kontrolle: Menschen mit PDA haben oft das starke Bedürfnis, die Kontrolle über Situationen zu behalten, um das Gefühl der Überforderung zu vermeiden. Dieses Bedürfnis nach Kontrolle kann sich auf alle Bereiche des Lebens erstrecken, einschließlich sozialer Interaktionen und alltäglicher Aufgaben.

  • Sozialer Anpassungsfähigkeit: Ein interessantes Merkmal von Menschen mit PDA ist ihre oft bessere Fähigkeit, soziale Situationen zu „lesen“ und sich sozial anzupassen. Dies unterscheidet sich von anderen autistischen Profilen, bei denen soziale Kommunikation und Interaktion häufig erschwert sind. Dies führt oft dazu, dass sie ihre Vermeidungsstrategien besser in sozialen Kontexten einsetzen können.

  • Starke emotionale Schwankungen: Menschen mit PDA erleben oft intensive emotionale Ausbrüche, insbesondere wenn sie sich in einer Situation gefangen fühlen oder das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren. Diese Emotionsausbrüche können plötzlich und intensiv sein, aber auch rasch wieder abklingen.

 

PDA und Autismus: Ein spezifisches Profil?

PDA wurde in den 1980er Jahren von der britischen Kinderpsychologin Elizabeth Newson beschrieben und wird oft als ein Profil innerhalb des Autismus-Spektrums angesehen. Menschen mit PDA zeigen viele der typischen Merkmale von Autismus, wie Unterschiede in sozialer Kommunikation und wiederholende Verhaltensmuster. Jedoch liegt der Hauptunterschied in der extremen Vermeidung von Anforderungen, die bei anderen Formen von Autismus nicht in dieser Intensität zu finden ist.

 

Während PDA von vielen Fachleuten als Teil des Autismus-Spektrums anerkannt wird, gibt es auch Debatten darüber, ob es als eigene Diagnose betrachtet werden sollte. Derzeit wird PDA in den offiziellen Diagnosemanualen wie ICD-11 oder DSM-5 nicht als separate Kategorie geführt, was es für betroffene Menschen und ihre Familien schwierig macht, geeignete Unterstützung und Therapieformen zu finden.

 

Ursachen und Theorien zu PDA:

Die genauen Ursachen von PDA sind noch nicht vollständig verstanden, doch es wird angenommen, dass genetische und neurologische Faktoren eine Rolle spielen. Wie bei anderen Formen von Autismus wird vermutet, dass Unterschiede in der Gehirnstruktur und -funktion, insbesondere in den Bereichen, die mit sozialer Interaktion, emotionaler Regulation und Stressbewältigung verbunden sind, für die Entwicklung von PDA verantwortlich sein könnten. Ein zentrales Konzept ist, dass Menschen mit PDA eine übermäßig starke Reaktion auf das Gefühl der Bedrohung durch Anforderungen oder Erwartungen haben. Diese Überreaktion kann mit einer erhöhten Angststörung einhergehen, was erklären könnte, warum selbst kleine Aufgaben als so überwältigend empfunden werden.

 

Strategien für den Umgang mit PDA:

Der Umgang mit PDA erfordert besondere Ansätze, die sich deutlich von denen unterscheiden, die für andere Formen des Autismus wirksam sind. Ein direktives Vorgehen, bei dem klare Anforderungen gestellt werden, führt oft zu Widerstand und Stress. Stattdessen haben sich folgende Strategien oft als hilfreich erwiesen:

  • Indirekte Anforderungen: Anstatt direkte Befehle oder Anforderungen zu stellen, können Erwachsene versuchen, Aufgaben in Form von Vorschlägen oder als Spiel zu präsentieren. Dies gibt der Person das Gefühl von Kontrolle und reduziert den Druck.

  • Flexibilität und Wahlmöglichkeiten: Menschen mit PDA fühlen sich oft weniger überwältigt, wenn sie Wahlmöglichkeiten haben. Indem man ihnen Optionen bietet oder sie selbst über den Ablauf einer Aufgabe entscheiden lässt, kann man Vermeidungshaltungen reduzieren.

  • Beziehungsorientierter Ansatz: Der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung und das Verständnis für die Angst und den Stress, die hinter dem Vermeidungsverhalten stehen, sind entscheidend. Es kann hilfreich sein, empathisch auf die Emotionen zu reagieren, anstatt sich nur auf das Verhalten zu konzentrieren.

  • Stressbewältigung und Angstmanagement: Da viele Menschen mit PDA hohe Angstniveaus erleben, können Techniken zur Stressbewältigung und zur Förderung emotionaler Regulation hilfreich sein. Dies kann Atemübungen, sensorische Unterstützung oder ruhige Rückzugsräume umfassen.

  • Individuelle Unterstützung: Jeder Mensch mit PDA ist anders, und die Strategien müssen an die individuellen Bedürfnisse angepasst werden. Manche profitieren von klaren Strukturen, andere von maximaler Flexibilität – die Anpassung der Unterstützung erfordert ein tiefes Verständnis für die betroffene Person.

 

Noch mehr Informationen zum Thema PDA findest Du in unserem Fachjournal unter autismusspektrum.info/journal

ABA (Applied Behavior Analysis)

Eine der am weitesten verbreiteten und zugleich umstrittensten Therapie-Methoden ist die Angewandte Verhaltensanalyse (Applied Behavior Analysis, ABA). ABA hat sich insbesondere in den USA als populäre Therapieform etabliert und wird häufig zur Förderung von Fähigkeiten und zur Verhaltensänderung bei autistischen Kindern eingesetzt. Allerdings steht ABA auch stark in der Kritik, vor allem aus der Perspektive von Menschen im Autismus-Spektrum und deren Befürwortern.

 

Was ist ABA?

Die Angewandte Verhaltensanalyse ist eine wissenschaftlich fundierte Methode, die darauf abzielt, Verhalten zu beobachten und anschließend zu verändern. Sie basiert auf den Grundsätzen des Behaviorismus, insbesondere auf der Theorie von B.F. Skinner, die besagt, dass Verhalten durch positive und negative Verstärkung beeinflusst werden kann. Das Ziel von ABA ist es, erwünschte Verhaltensweisen (von autistischen Kindern) zu fördern und unerwünschte Verhaltensweisen zu reduzieren, indem gezielt auf Belohnungssysteme und klare Strukturen gesetzt wird.

 

ABA wird häufig eingesetzt, um Fähigkeiten in den Bereichen Kommunikation, soziale Interaktion, Selbstpflege und akademische Leistungen zu verbessern. Ein ABA-Therapieprogramm umfasst in der Regel:

  • Systematische Analyse des Verhaltens: Beobachtung des Verhaltens in verschiedenen Situationen, um Muster zu erkennen.

  • Verstärkungen und Konsequenzen: Positive Verstärkung für erwünschtes Verhalten (z. B. Lob oder Belohnungen) und die Nichtverstärkung oder Umleitung von unerwünschtem Verhalten.

  • Schrittweises Lernen: Komplexe Aufgaben oder Fähigkeiten werden in kleine, leicht erlernbare Schritte unterteilt.

  • Therapien, die ABA nutzen, sind oft intensiv und langfristig, mit Sitzungen, die mehrere Stunden täglich über einen Zeitraum von Monaten oder Jahren dauern können.

 

Mögliche Vorteile von ABA:

ABA hat sich als eine der am meisten erforschten und wissenschaftlich untersuchten Therapieformen für autistische Kinder etabliert. Viele Studien zeigen, dass ABA in der Lage zu sein scheint, bestimmte Verhaltensweisen zu fördern und Entwicklungsverzögerungen zu mindern. Zu den potenziellen Vorteilen von ABA gehören deshalb:

  • Verbesserte Kommunikationsfähigkeiten: ABA kann Kindern helfen, Sprache und Kommunikation zu erlernen, sei es durch gesprochene Sprache oder alternative Kommunikationsmethoden wie Gebärdensprache oder Bildsysteme.

  • Förderung sozialer Fähigkeiten: Viele ABA-Programme zielen darauf ab, autistischen Kindern beizubringen, besser auf soziale Signale zu reagieren, soziale Interaktionen zu initiieren und angemessene Verhaltensweisen in verschiedenen sozialen Kontexten zu zeigen.

  • Selbständigkeit: ABA kann autistischen Kindern helfen, selbständigere Fähigkeiten in den Bereichen Selbstpflege, Haushaltsaufgaben und Alltagstätigkeiten zu entwickeln, die für ihre zukünftige Lebensqualität wichtig sind.

  • Wissenschaftliche Grundlage: ABA ist eine der wenigen Interventionsmethoden für Autismus, die gut dokumentierte und evidenzbasierte Erfolge vorweisen kann. Viele Eltern und Fachleute haben berichtet, dass ABA bei der Förderung bestimmter Fähigkeiten und der Reduzierung problematischer Verhaltensweisen sehr effektiv sein kann.

 

Kritik an ABA und Kontroverse:

Trotz der weit verbreiteten Anwendung von ABA gibt es erhebliche Kritik, insbesondere von autistischen Menschen selbst sowie Autismus-Befürwortern, die die Methode als potenziell schädlich empfinden. Die Kritik an ABA konzentriert sich dabei auf mehrere Kernaspekte:

  • Fokus auf Anpassung an „normale“ Verhaltensweisen: Eine der häufigsten Kritiken an ABA ist, dass die Methode darauf abzielt, autistische Menschen dazu zu bringen, sich „normaler“ zu verhalten, was häufig bedeutet, dass sie ihre natürlichen autistischen Verhaltensweisen unterdrücken müssen. Diese Anpassung an neurotypische Normen kann als Druck empfunden werden, das eigene Wesen zu verändern, und als Ablehnung der Identität von Autisten.

  • Verwendung von Belohnung und Bestrafung: ABA arbeitet oft mit Belohnungssystemen, bei denen Kinder für erwünschtes Verhalten belohnt und für unerwünschtes Verhalten ignoriert oder umgeleitet werden. Kritiker argumentieren, dass dies eine Art von „Dressur“ sei, die Kinder darauf konditioniert, sich aus Angst vor Konsequenzen oder dem Wunsch nach Belohnungen zu verhalten, anstatt ihre eigenen Motivationen und Interessen zu fördern. Manche berichten, dass dies zu einem Gefühl der Entfremdung von den eigenen Bedürfnissen und Emotionen führen kann.

  • Emotionale Belastung und Stress: Menschen, die ABA durchlaufen haben, berichten manchmal von hohen Stressniveaus während der Therapie. Intensive Sitzungen, die oft mehrere Stunden am Tag dauern, können für Kinder sehr anstrengend sein. Einige Autisten berichten, dass sie sich während ABA gezwungen fühlten, gegen ihre Natur zu handeln, was emotional schädlich und traumatisierend sein kann.

  • Mangelnde Berücksichtigung der Autonomie: ABA wird oft an sehr jungen Kindern angewendet, die noch nicht in der Lage sind, ihre eigene Zustimmung zu geben. Kritiker argumentieren, dass dies die Autonomie und das Recht des Kindes auf Selbstbestimmung missachtet. Es wird auch darauf hingewiesen, dass viele ABA-Programme stark strukturiert und wenig flexibel sind, wodurch die Bedürfnisse und Interessen des Kindes oft nicht ausreichend berücksichtigt werden.

  • Langfristige Folgen: Während ABA kurzfristig Verhaltensänderungen bewirken kann, gibt es Bedenken hinsichtlich der langfristigen Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die Identitätsentwicklung. Einige erwachsene Autisten, die als Kinder ABA-Therapie erhielten, berichten von anhaltenden Traumata und einem Gefühl, dass ihre autistische Identität unterdrückt wurde.

 

Neurodiversität und alternative Therapien:

Die sogenannte Neurodiversitätsbewegung hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen und setzt sich dafür ein, neurologische Unterschiede wie Autismus als natürlichen Teil menschlicher Vielfalt zu betrachten, anstatt sie als Störung oder Defizit zu behandeln. Befürworter der Neurodiversität kritisieren ABA, weil es versucht, autistisches Verhalten „auszulöschen“, anstatt die Stärken und einzigartigen Eigenschaften von Autisten zu fördern und sie dadurch zu empowern.

 

Statt ABA zu verwenden, bevorzugen viele Therapeuten deswegen heute Ansätze, welche autistische Menschen dabei unterstützen, sich in ihrem eigenen Tempo und auf ihre eigene Weise zu entwickeln. Dazu gehören Methoden wie:

  • Floortime: Eine spielerische Therapieform, bei der das Kind in seinem eigenen Tempo die Möglichkeit erhält, soziale und emotionale Verbindungen aufzubauen.

  • TEACCH: Ein strukturierter Unterrichtsansatz, der auf den Stärken und Bedürfnissen des Kindes basiert, ohne das Ziel, es an neurotypische Normen anzupassen.

  • Sensorische Integrationstherapie: Diese Methode zielt darauf ab, sensorische Überempfindlichkeiten zu integrieren, die bei vielen autistischen Menschen auftreten, anstatt sie zu unterdrücken oder zu ignorieren.

TEACCH (Treatment and Education of Autistic and related Communication-handicapped Children)

Einer der bekanntesten und weltweit anerkannten Ansätze zur Unterstützung und Förderung autistischer Menschen ist das TEACCH-Programm. Es zielt darauf ab, durch eine klare Strukturierung der Umgebung und individuell angepasste Förderung die Selbstständigkeit und Lebensqualität von autistischen Menschen zu verbessern.

 

Was ist TEACCH?

TEACCH steht für „Treatment and Education of Autistic and related Communication-handicapped Children“ und wurde in den 1960er Jahren von Dr. Eric Schopler und Dr. Robert Reichler an der University of North Carolina entwickelt. Ursprünglich war es als Bildungsprogramm für Kinder mit Autismus gedacht, welches sich jedoch im Laufe der Jahre zu einem umfassenden Ansatz zur Unterstützung autistischer Menschen jeden Alters entwickelt hat.

 

TEACCH basiert auf der Vorstellung, dass Autismus eine lebenslange neurologische Variation ist, die durch spezifische Stärken und Herausforderungen geprägt ist. Statt zu versuchen, autistisches Verhalten zu "korrigieren" oder autistische Menschen an neurotypische Normen anzupassen, konzentriert sich TEACCH darauf, die Umgebung und die Lernstrategien an die Bedürfnisse der betroffenen Person anzupassen. Dies erfolgt vor allem durch strukturierte Lehrmethoden, die Klarheit und Vorhersehbarkeit bieten, um Stress zu reduzieren und die Selbstständigkeit zu fördern. Damit stellt TEACCH auch eine valide Alternative zur stark umstrittenen ABA-Methode dar.

 

Die Grundprinzipien des TEACCH-Ansatzes:

TEACCH basiert auf mehreren grundlegenden Prinzipien, die die Methode von anderen Ansätzen zur Förderung von Menschen mit Autismus unterscheiden:

  • Strukturierter Unterricht: Einer der wichtigsten Aspekte des TEACCH-Ansatzes ist die strukturierte Umgebung. Autistische Menschen profitieren häufig von klaren, visuellen Strukturen, die den Tagesablauf, Aufgaben und Erwartungen deutlich machen. Strukturierte Tagespläne, visuelle Anleitungen und organisierte Arbeitsbereiche schaffen ein Umfeld, das für autistische Menschen leichter zu navigieren ist.

  • Visuelle Unterstützung: Da viele autistische Menschen Schwierigkeiten mit verbalen Anweisungen und abstrakter Sprache haben, verwendet TEACCH visuelle Hilfsmittel, um das Verständnis zu fördern. Dies kann durch Bildkarten, Diagramme, Symbole oder schriftliche Anweisungen geschehen, die die Schritte einer Aufgabe oder den Ablauf des Tages visualisieren.

  • Individuelle Anpassung: TEACCH legt großen Wert darauf, den Unterricht und die Unterstützung an die individuellen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Interessen der betroffenen Person anzupassen. Jeder autistische Mensch ist anders, und TEACCH berücksichtigt diese Vielfalt, indem es auf die spezifischen Stärken und Herausforderungen jedes Einzelnen eingeht.

  • Förderung der Selbstständigkeit: Ein zentrales Ziel des TEACCH-Programms ist es, autistischen Menschen zu helfen, so selbstständig wie möglich zu werden. Dies wird durch das Erlernen von Fähigkeiten in einem strukturierten Umfeld erreicht, das es ihnen ermöglicht, Aufgaben und Herausforderungen schrittweise und in ihrem eigenen Tempo zu bewältigen.

  • Ganzheitlicher Ansatz: TEACCH bezieht nicht nur den Unterricht in der Schule ein, sondern auch die Zusammenarbeit mit Familien, Therapeuten und anderen Fachkräften, um eine umfassende Unterstützung für die betroffene Person zu gewährleisten. Das Programm betont die Wichtigkeit eines vernetzten Ansatzes, der alle Aspekte des Lebens des autistischen Menschen umfasst.

 

Wie funktioniert TEACCH in der Praxis?

In der Praxis sieht TEACCH je nach Alter und Fähigkeiten des autistischen Menschen unterschiedlich aus. Einige der wichtigsten Elemente, die häufig verwendet werden, sind:

  • Visuelle Zeitpläne: Diese geben einen klaren Überblick über den Tagesablauf und helfen der Person, zu wissen, was sie erwartet. Ein solcher Zeitplan kann in Form von Bildern, Symbolen oder Text erstellt werden und ermöglicht es, den Tag in überschaubare Schritte zu unterteilen.

  • Aufgabenboxen: Aktivitäten oder Aufgaben werden in klar definierte Boxen oder Behälter organisiert, die visuell darstellen, was zu tun ist. Dies gibt den autistischen Menschen Struktur und hilft ihnen, den Beginn und das Ende einer Aufgabe besser zu erkennen.

  • Visuelle Anweisungen: Jede Aufgabe oder Aktivität wird mit visuellen Hilfen unterstützt, die die einzelnen Schritte deutlich machen. Dies kann z. B. durch Sequenzbilder oder Pfeile geschehen, die den Weg durch die Aufgabe leiten. Die hierfür verwendeten Bildkarten werden als „Piktogramme“ bezeichnet.

  • Organisierte Umgebung: Der physische Raum ist im TEACCH-Ansatz so gestaltet, dass es klare Bereiche für verschiedene Aktivitäten gibt, wie Arbeit, Spiel oder Entspannung. Die Umgebung wird so organisiert, dass sie visuell verständlich und einfach zu navigieren ist.

 

Die Vorteile von TEACCH:

TEACCH wird aufgrund seiner klaren Struktur und seines flexiblen Ansatzes weithin geschätzt. Einige der Hauptvorteile des Programms sind:

  • Förderung der Selbstständigkeit: Durch die klare Struktur und den visuellen Ansatz lernen autistische Menschen, ihre Aufgaben eigenständig zu bewältigen, ohne ständig auf verbale Anweisungen oder Unterstützung angewiesen zu sein. Dies kann ihnen helfen, auch in anderen Lebensbereichen unabhängig zu werden.

  • Stressreduktion: Viele autistische Menschen empfinden die Welt als chaotisch und überwältigend. TEACCH hilft, diese Überforderung zu verringern, indem es Klarheit und Vorhersehbarkeit schafft. Durch die Reduktion von Unsicherheiten wird Stress minimiert und ein sicherer Rahmen für Lernen und Entwicklung geschaffen.

  • Individuelle Förderung: Der TEACCH-Ansatz ist darauf ausgelegt, die Stärken des Einzelnen zu nutzen und die spezifischen Herausforderungen zu adressieren. Dies ermöglicht eine maßgeschneiderte Unterstützung, die besser auf die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten eingeht.

  • Lebenslange Unterstützung: TEACCH kann an jede Lebensphase angepasst werden – von der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Es ist nicht nur ein schulisches Programm, sondern ein ganzheitlicher Ansatz, der sich auf das gesamte Leben der autistischen Person auswirken kann, einschließlich der Unterstützung bei der Integration in das Arbeitsleben und der Bewältigung alltäglicher Aufgaben.

 

Kritik am TEACCH-Programm:

Trotz seiner vielen Vorteile gibt es auch Kritik an TEACCH, insbesondere von einigen Vertretern der Neurodiversitätsbewegung und Befürwortern alternativer Ansätze. Kritiker argumentieren, dass TEACCH möglicherweise zu stark auf Struktur und Vorhersehbarkeit setzt und dadurch die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der betroffenen Personen einschränkt. In der realen Welt gäbe es oft unvorhergesehene Situationen, und autistische Menschen müssten lernen, mit dieser Unsicherheit umzugehen. Zudem wird betont, dass TEACCH den Schwerpunkt zu sehr auf individuelle Aufgaben und Strukturen legt und dabei die Förderung sozialer Interaktionen vernachlässigen könnte. Da soziale Schwierigkeiten ein gemeinhin Kernmerkmal von Autismus sind, solle die Förderung von sozialen Fähigkeiten stärker im Vordergrund stehen. Kritiker aus der Neurodiversitätsbewegung argumentieren außerdem, dass ein Ansatz, der darauf abzielt, autistische Verhaltensweisen zu ändern, möglicherweise die Identität und das Wohlbefinden der autistischen Person negativ beeinträchtigen könnte.

ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom)

ADHS ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die durch Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität gekennzeichnet ist. Die Symptome treten in der Regel in der Kindheit auf und können bis ins Erwachsenenalter andauern.

 

Autismus-Spektrum-Störungen und ADHS sind zwei der häufigsten neuroentwicklungsbedingten Störungen bei Kindern und Erwachsenen, welche in ca. 50& der Fälle komorbid vorkommen. Obwohl sie unterschiedliche diagnostische Kriterien haben, gibt es viele Überschneidungen in ihren Symptomen, was oft zu Verwirrung bei der Diagnose führen kann.

 

ADHS wird in drei Subtypen unterteilt:

  • Vorwiegend unaufmerksamer Typ: Menschen mit dieser Form haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, sind leicht ablenkbar und vergessen oft Details.

  • Vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ: Diese Menschen sind oft unruhig, zappelig, impulsiv und haben Schwierigkeiten, still zu sitzen.

  • Kombinierter Typ: Hierbei treten sowohl Symptome der Unaufmerksamkeit als auch der Hyperaktivität und Impulsivität auf.

 

Gemeinsame Merkmale von Autismus und ADHS:

Es gibt viele Überschneidungen zwischen Autismus und ADHS, was die Diagnose kompliziert machen kann. Zu den Gemeinsamkeiten gehören:

  • Aufmerksamkeitsprobleme: Sowohl autistische Menschen als auch Menschen mit ADHS haben häufig Schwierigkeiten, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, vor allem, wenn sie nicht intrinsisch motiviert sind. Bei ADHS ist dies durch eine generelle Unaufmerksamkeit gekennzeichnet, während autistische Menschen oft repetitive und spezifische Interessen zeigen können, von welchen sie sich gedanklich nicht lösen können.

  • Impulsivität und Verhaltensprobleme: Impulsivität ist ein zentrales Merkmal von ADHS, kann jedoch auch bei autistischen Menschen auftreten, besonders in Form von plötzlichen emotionalen Reaktionen oder Schwierigkeiten, Frustrationen zu bewältigen.

  • Schwierigkeiten in sozialen Interaktionen: Beide Gruppen können Schwierigkeiten haben, soziale Regeln und Normen zu verstehen, was zu Missverständnissen und sozialer Isolation führen kann. Während autistische Menschen oft Probleme mit der sozialen Kommunikation und dem Verständnis von sozialen Signalen haben, neigen Menschen mit ADHS eher dazu, impulsiv zu handeln und Schwierigkeiten zu haben, sich auf Gespräche zu konzentrieren.

  • Probleme mit der Selbstregulation: Sowohl bei Autismus als auch bei ADHS können Schwierigkeiten auftreten, Emotionen und Verhalten zu regulieren, was zu emotionalen Ausbrüchen oder Verhaltensauffälligkeiten führen kann.

  • Reizüberflutung: Menschen mit beiden Störungen neigen dazu, von Reizen überfordert zu werden. Bei ADHS zeigt sich dies oft als Ablenkbarkeit, während autistische Menschen sensorische Überempfindlichkeiten aufweisen können.

 

Unterschiede zwischen Autismus und ADHS:

Obwohl es viele Gemeinsamkeiten gibt, sind Autismus und ADHS verschiedene Störungen mit eigenen Merkmalen und diagnostischen Kriterien. Zu den wichtigsten Unterschieden zählen:

  • Soziale Interaktionen: Autismus ist durch tiefgreifende Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion gekennzeichnet. Menschen mit ADHS hingegen verstehen in der Regel die sozialen Normen, aber ihre Impulsivität und Unaufmerksamkeit können sie daran hindern, diese umzusetzen.

  • Repetitives Verhalten: Repetitives oder restriktives Verhalten, wie es bei Autismus häufig vorkommt, ist kein typisches Merkmal von ADHS. Menschen mit ADHS sind oft impulsiv und suchen nach neuen Reizen, während autistische Menschen routinemäßig an bestimmten Aktivitäten oder Interessen festhalten.

  • Interessen und Fokussierung: Menschen mit ADHS haben oft Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, während autistische Menschen auf ihre speziellen Interessen fixiert sein können. Zwar kennen auch viele Menschen mit ADHS einen sogenannten „Hyperfokus“, dieser bezieht sich im Gegensatz zu der inneren Fixiertheit bei Autismus eher auf Außenreize und endet, sobald der äußere Reiz nicht mehr vorhanden ist.

  • Kommunikationsprobleme: Autistische Menschen haben häufig spezifische Schwierigkeiten mit Sprache, Gestik und nonverbaler Kommunikation. Bei ADHS treten solche Probleme seltener auf, obwohl Unaufmerksamkeit und Impulsivität die Kommunikation und das Sozialverhalten beeinträchtigen können.

 

Autismus und ADHS treten außerdem häufig gemeinsam auf, was als Komorbidität bezeichnet wird. Studien zeigen, dass bis zu 50% aller Menschen mit Autismus auch die Kriterien für ADHS erfüllen. Früher schlossen sich die Diagnosen von Autismus und ADHS zwar formal gegenseitig aus, doch mittlerweile ist eine Doppeldiagnose mittels ICD-11 möglich. Das komorbide Auftreten beider Störungsbilder kann die Diagnose und Behandlung erschweren, da die Symptome sich überlappen und gleichzeitig in unterschiedliche Richtungen ausprägen können. Zum Beispiel kann ein Kind sowohl Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren und still zu sitzen (ADHS), als auch ein inneres Bedürfnis nach festen Strukturen und Routinen (Autismus) haben. Ein weiterer Faktor ist, dass ADHS-Symptome bei autistischen Menschen manchmal „übersehen“ oder auf den Autismus zurückgeführt werden, was zu einer unvollständigen Diagnose führen kann. Dies ist besonders problematisch, da ADHS spezifische Behandlungen, wie medikamentöse Therapien oder Verhaltensinterventionen, erfordert, die sich von den typischen Ansätzen für Autismus unterscheiden.

 

Im ICD-11 (2024) heißt es hinsichtlich der Grenze von Autismus zu ADHS: „Bei Personen mit Autismus-Spektrum-Störung werden häufig bestimmte Aufmerksamkeitsstörungen (z. B. übermäßige Konzentration oder leichte Ablenkbarkeit), Impulsivität und körperliche Hyperaktivität beobachtet. Personen mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung weisen jedoch keine dauerhaften Defizite beim Aufbau und der Aufrechterhaltung sozialer Kommunikation und gegenseitiger sozialer Interaktionen oder die dauerhaft eingeschränkten, sich wiederholenden und unflexiblen Verhaltens-, Interessen- oder Aktivitätsmuster auf, die die bestimmenden Merkmale der Autismus-Spektrum-Störung sind. Autismus-Spektrum-Störung und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung können jedoch gemeinsam auftreten, und beide Diagnosen können zugewiesen werden, wenn die Diagnoseanforderungen für beide erfüllt sind. Die Symptome der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung können manchmal die klinische Präsentation dominieren, sodass einige Symptome der Autismus-Spektrum-Störung weniger deutlich sind.“

Noch mehr zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Autismus und ADHS findest DU in unserem Fachjournal unter autismusspektrum.inf0/journal

Sprachliche Besonderheiten

Eine der zentralen Herausforderungen für viele Menschen im Autismus-Spektrum betrifft die sprachliche Kommunikation. Während einige autistische Personen über außergewöhnliche sprachliche Fähigkeiten verfügen, kämpfen andere mit erheblichen sprachlichen Barrieren. Abweichungen und Besonderheiten hinsichtlich der Sprache bilden dabei eines der zentralen Kernkriterien der Autismus-Spektrumstörung.

 

Sprachliche Besonderheiten bei Autismus

Die sprachlichen Besonderheiten bei Autismus sind vielfältig und können je nach Individuum und Position im Spektrum stark variieren. Zu den häufigsten sprachlichen Besonderheiten, die bei Menschen mit Autismus beobachtet werden, zählen:

  • Verzögerte Sprachentwicklung: Viele Kinder im Autismus-Spektrum zeigen eine verzögerte Sprachentwicklung. Während typische Kinder bereits im Alter von zwei Jahren einfache Sätze bilden, können autistische Kinder diesen Meilenstein verzögert erreichen oder ganz ausbleiben. Diese Verzögerung kann sich auf die Grammatik, den Wortschatz oder die Satzstruktur auswirken.

  • Echolalie: Echolalie bezeichnet das wiederholte Nachsprechen von Wörtern oder Sätzen, die eine Person gehört hat. Bei autistischen Kindern kann Echolalie sowohl unmittelbar nach dem Hören als auch verzögert auftreten. Dies kann ein Weg sein, um Sprachmuster zu üben oder Bedeutungen zu verarbeiten.

  • Nonverbale Kommunikation: Autistische Menschen haben oft Schwierigkeiten mit nonverbaler Kommunikation. Dies umfasst Mimik, Gestik, Augenkontakt und Körperhaltung. Ein eingeschränktes Verständnis oder der bewusste Verzicht auf nonverbale Signale kann die soziale Interaktion erschweren.

  • Wortwörtlich nehmen: Autistische Personen neigen dazu, Sprache wörtlich zu nehmen. Metaphern, Redewendungen oder Ironie können missverstanden werden, da die zugrunde liegende Bedeutung nicht direkt aus den Worten abgeleitet werden kann. Dies kann zu Missverständnissen in der Kommunikation führen.

  • Monotone Stimmmelodie: Einige autistische Menschen sprechen mit einer monotonen Stimme oder haben einen ungewöhnlichen Sprachrhythmus. Dies kann die Kommunikation weniger expressiv und emotional erscheinen lassen, was wiederum die soziale Interaktion beeinflussen kann.

  • Erweiterter Wortschatz und eloquenter Ausdruck: Im Gegensatz zu den oben genannten Herausforderungen können einige autistische Personen über einen außergewöhnlich erweiterten Wortschatz verfügen, insbesondere in ihren Interessensgebieten. Dieses Phänomen, oft als „Savant-Fähigkeiten“ bezeichnet, ermöglicht es ihnen, detaillierte und präzise Informationen zu spezifischen Themenbereichen zu liefern.

 

Unterschiede innerhalb des Autismus-Spektrums:

Das Autismus-Spektrum umfasst eine breite Palette von Fähigkeiten und Herausforderungen. Während einige Menschen kaum sprachliche Fähigkeiten entwickeln, können andere nahezu neurotypisch kommunizieren. Hochfunktionale Autisten, die oft als Asperger-Syndrom bezeichnet werden, zeigen in der Regel weniger ausgeprägte sprachliche Schwierigkeiten, während Personen mit schwerem Autismus möglicherweise gar nicht sprechen. Diese Vielfalt unterstreicht die Notwendigkeit individueller Ansätze zur Unterstützung der sprachlichen Entwicklung.

 

Ursachen der sprachlichen Besonderheiten bei Autismus

Die sprachlichen Unterschiede bei Autismus haben multifaktorielle Ursachen, die sowohl genetische als auch neurologische Aspekte umfassen:

  • Genetische Faktoren: Studien haben gezeigt, dass genetische Veranlagungen eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung von Autismus und den damit verbundenen sprachlichen Besonderheiten spielen. Bestimmte Gene sind mit Sprachentwicklung und Kommunikationsfähigkeiten assoziiert.

  • Neurologische Unterschiede: Autistische Personen weisen oft Unterschiede in der Gehirnstruktur und -funktion auf, insbesondere in Bereichen, die für Sprache und Kommunikation verantwortlich sind. Diese Unterschiede können die Art und Weise beeinflussen, wie Sprache verarbeitet und produziert wird.

  • Sensorische Verarbeitung: Viele autistische Menschen haben sensorische Überempfindlichkeiten oder Unterempfindlichkeiten, die ihre Fähigkeit zur Verarbeitung und Produktion von Sprache beeinträchtigen können. Übermäßige sensorische Reize können zu Ablenkung oder Stress führen, was die Kommunikation erschwert.

Intelligenz und Hochbegabung

Hinsichtlich der Intelligenz bei Autismus reicht das Spektrum von Menschen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung bis hin zu Menschen mit außergewöhnlich hohen intellektuellen Fähigkeiten. In der Vergangenheit wurde oft angenommen, dass die Mehrheit der Autisten eine intellektuelle Beeinträchtigung aufweist. Neuere Studien zeigen jedoch, dass der Anteil autistischer Menschen mit durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz höher ist, als früher vermutet. Hierbei spielt die Heterogenität der kognitiven Profile eine zentrale Rolle: Viele autistische Menschen zeigen Stärken in bestimmten Bereichen wie dem logischen Denken, der Mustererkennung oder der Detailwahrnehmung, während sie in anderen Bereichen, wie dem abstrakten Denken oder sozialen Interaktionen, Schwierigkeiten haben können.

 

Messung von Intelligenz bei autistischen Menschen

Ein wesentliches Problem bei der Diskussion über Autismus und Intelligenz ist, dass herkömmliche IQ-Tests oft nicht die realen Fähigkeiten autistischer Menschen widerspiegeln. Die standardisierten Tests zur Messung von Intelligenz sind in der Regel auf neurotypische Menschen ausgerichtet und setzen oft soziale und kommunikative Fähigkeiten voraus. Dies kann dazu führen, dass die Fähigkeiten eines autistischen Menschen unterschätzt werden, insbesondere wenn er nicht in der Lage ist, auf herkömmliche Weise zu kommunizieren.

 

Alternative Messmethoden und spezifische Tests, die auf die Stärken und Schwächen von Autisten eingehen, zeigen häufig ein differenzierteres Bild. Zum Beispiel kann jemand, der im verbalen Bereich Schwierigkeiten hat, im nonverbalen oder visuellen Denken außergewöhnliche Leistungen zeigen.

 

Inselbegabungen und besondere Fähigkeiten

Ein bekanntes Phänomen im Zusammenhang mit Autismus und Intelligenz ist das sogenannte Savant-Syndrom. Menschen mit Savant-Syndrom, die oft auch Autismus haben, zeichnen sich durch außergewöhnliche Fähigkeiten in einem eng begrenzten Bereich aus, wie zum Beispiel in der Mathematik, Musik oder Kunst. Diese „Inselbegabungen“ betreffen nur eine ausgesprochen kleine Minderheit autistischer Menschen (weltweit sind nur wenige Dutzend Fälle des Savant-Syndroms bekannt), tragen jedoch erheblich zu der öffentlichen Wahrnehmung bei, dass Autismus manchmal mit außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten einhergeht.

 

Diese besonderen Fähigkeiten sind faszinierend, können jedoch den Blick auf die Realität vieler autistischer Menschen verzerren. Die Mehrheit der Autisten weist keine Savant-Fähigkeiten auf, sondern hat – wie neurotypische Menschen auch – individuelle Stärken und Schwächen.

 

Autismus und unterschiedliche Intelligenzprofile

Menschen mit Autismus können in verschiedenen kognitiven Bereichen unterschiedliche Fähigkeiten aufweisen, was oft als „splinter skills“ oder „zerklüftetes Intelligenzprofil“ bezeichnet wird. Zum Beispiel kann ein autistischer Mensch große Probleme mit sozialen Interaktionen und sprachlichem Ausdruck haben, gleichzeitig aber ein außergewöhnliches Gedächtnis oder eine hohe mathematische Kompetenz besitzen. Umgekehrt haben oft diejenigen autistischen Menschen mit den ausgeprägtesten Stärken in anderen Bereichen die größten Beeinträchtigungen.

 

Einen aktuellen Fachartikel zum Thema Autismus und Intelligenz von Dr. Ronny Gundelfinger findest Du hier.

Alexithymie (Gefühlsblindheit)

Alexithymie (oder auch Gefühlsblindheit) beschreibt Schwierigkeiten, Emotionen zu erkennen, zu verstehen und zu benennen. Autismus und Alexithymie werden häufig zusammen in Verbindung gebracht, da ein erheblicher Teil der autistischen Menschen auch alexithyme Züge aufweist. Dennoch sind Autismus und Alexithymie zwei unterschiedliche Konzepte, die zwar überlappen können, aber nicht zwangsläufig miteinander verbunden sind.

 

Was ist Alexithymie?

Alexithymie leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet „ohne Worte für Gefühle“. Menschen mit Alexithymie haben Schwierigkeiten, ihre eigenen Emotionen zu identifizieren und auszudrücken. Sie können oft nicht zwischen verschiedenen Gefühlsregungen unterscheiden und haben Probleme, körperliche Symptome von Emotionen zu erkennen, wie etwa das Herzklopfen bei Angst oder die Anspannung bei Wut.

 

Alexithymie umfasst in der Regel drei Hauptmerkmale:

  • Schwierigkeiten, eigene Emotionen zu erkennen und zu benennen: Menschen mit Alexithymie empfinden oft Emotionen, können aber nicht genau sagen, was sie fühlen.

  • Probleme, Emotionen anderer zu verstehen: Dies führt oft zu Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen, da emotionale Signale anderer Menschen nur schwer gedeutet werden können.

  • Präferenz für sachliche und logische Informationen: Menschen mit Alexithymie neigen dazu, kognitive Informationen gegenüber emotionalen zu bevorzugen. Sie analysieren Situationen eher rational als emotional.

 

Alexithymie und Autismus: Überlappung und Unterschiede:

Während Autismus und Alexithymie häufig zusammen auftreten, sind sie nicht dasselbe. Es wird geschätzt, dass etwa 50% der autistischen Menschen auch alexithyme Merkmale aufweisen, jedoch haben nicht alle autistischen Personen Alexithymie. Ebenso können Menschen mit Alexithymie, die keine autistischen Züge haben, Schwierigkeiten in der emotionalen Wahrnehmung und Verarbeitung haben.

Die Verbindung zwischen den beiden Zuständen kann oft zu Missverständnissen führen. Viele der emotionalen und sozialen Herausforderungen, die autistische Menschen erleben, werden auf den Autismus selbst zurückgeführt, obwohl Alexithymie in vielen Fällen eine entscheidende Rolle spielt. Forschung hat gezeigt, dass einige emotionale Defizite, die häufig autistischen Menschen zugeschrieben werden, tatsächlich durch Alexithymie verursacht werden können.

 

Emotionale Wahrnehmung und Verarbeitung:

Menschen mit Autismus haben oft Schwierigkeiten, soziale und emotionale Signale wie Gesichtsausdrücke, Tonfall oder Körpersprache zu interpretieren. Diese Probleme hängen jedoch nicht immer direkt mit Alexithymie zusammen. Während Alexithymie das Erkennen und Benennen der eigenen Emotionen betrifft, sind die emotionalen Herausforderungen bei Autismus breiter gefächert und betreffen häufig auch die soziale Interaktion und sensorische Überempfindlichkeit.

 

Interessanterweise gibt es autistische Menschen ohne Alexithymie, die durchaus in der Lage sind, ihre eigenen Emotionen klar zu erkennen und auszudrücken. Dennoch kann es sein, dass sie Schwierigkeiten haben, in der sozialen Interaktion angemessen zu reagieren, da sie soziale Normen oder subtile emotionale Signale nicht verstehen. Dies zeigt, dass emotionale und soziale Beeinträchtigungen bei Autismus und Alexithymie unterschiedliche Ursachen haben können. Studien legen nahe, das Alexithymie bei autistischen Kindern insbesondere durch Schwierigkeiten in der emotionalen Interaktion zwischen Mutter und Kind verursacht werden.

 

Auswirkungen auf soziale Beziehungen:

Sowohl Autismus als auch Alexithymie können erhebliche Auswirkungen auf das soziale Leben haben. Für autistische Menschen mit Alexithymie kann es besonders schwierig sein, enge soziale Bindungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Da sie oft Schwierigkeiten haben, die Gefühle anderer Menschen zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren, können Missverständnisse und Kommunikationsprobleme entstehen. Partner, Freunde oder Familienmitglieder könnten das Verhalten als distanziert oder desinteressiert interpretieren, obwohl die betroffene Person möglicherweise einfach nicht in der Lage ist, ihre eigenen Emotionen zu verstehen oder zu zeigen. Für autistische Menschen ohne Alexithymie können soziale Interaktionen dennoch herausfordernd sein, da die Schwierigkeiten oft in der sozialen Kognition und der Verarbeitung nonverbaler Hinweise liegen. Hier sind nicht primär emotionale Defizite, sondern eher Unterschiede in der sozialen Wahrnehmung und Reaktion entscheidend.

 

Emotionale Gesundheit und Wohlbefinden

Die Kombination von Autismus und Alexithymie kann auch die emotionale Gesundheit beeinträchtigen. Menschen, die Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Emotionen zu identifizieren, können oft nicht effektiv auf Stress, Angst oder Trauer reagieren. Dies führt manchmal zu einer Anhäufung unverarbeiteter Gefühle, was das Risiko für psychische Probleme wie Depressionen und Angststörungen erhöht. Autistische Menschen mit Alexithymie berichten außerdem häufig, dass sie sich emotional „abgeschnitten“ oder „leer“ fühlen. Dies kann zu einem Gefühl der Isolation führen, da emotionale Verbindungen zu anderen schwer herzustellen sind. Therapieansätze, die gezielt auf die Entwicklung emotionaler Wahrnehmung abzielen, könnten hier hilfreich sein, auch wenn diese oft an individuelle Bedürfnisse angepasst werden müssen.

Zentrale Kohärenz

Im Zusammenhang mit Autismus steht das Modell der schwachen zentralen Kohärenz, das beschreibt, dass autistische Menschen dazu neigen, eher auf Details als auf das große Ganze fokussiert zu sein. Dies führe zu einzigartigen Stärken, aber auch zu Herausforderungen im Alltag.

 

Was ist zentrale Kohärenz?

Das Konzept der zentralen Kohärenz wurde erstmals von der Psychologin Uta Frith in den 1980er Jahren eingeführt. Es beschreibt die Fähigkeit, Informationen in einem globalen Kontext zu verarbeiten, also das „große Ganze“ zu sehen und einzelne Details in einen zusammenhängenden Kontext einzubetten. Bei Menschen mit starker zentraler Kohärenz steht das Verständnis von Zusammenhängen im Vordergrund, während Details oft untergeordnet werden. Zum Beispiel könnte eine Person mit starker zentraler Kohärenz beim Lesen eines Textes die Hauptidee oder den Gesamtzusammenhang leicht erfassen, ohne sich übermäßig auf einzelne Wörter oder Sätze zu konzentrieren. Diese Fähigkeit hilft uns, komplexe Situationen schnell zu verstehen, auch wenn nicht alle Informationen im Detail betrachtet werden.

 

Schwache zentrale Kohärenz im Autismus:

Menschen mit Autismus neigen oft dazu, eine schwache zentrale Kohärenz zu haben, was bedeutet, dass sie eher auf Details fokussiert sind als auf das große Ganze. Anstatt Informationen automatisch in einen globalen Kontext einzubetten, fällt es ihnen schwer, verschiedene Informationen zu einem sinnvollen Gesamtbild zusammenzuführen. Dies hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Wahrnehmungs- und Denkverhalten. Ein klassisches Beispiel für schwache zentrale Kohärenz wäre ein autistisches Kind, das beim Betrachten eines Bildes von einem Wald zunächst die Blätter oder einzelnen Bäume bemerkt, anstatt den Wald als Ganzes wahrzunehmen. Diese Detailorientierung kann in manchen Kontexten von Vorteil sein, in anderen jedoch hinderlich.

 

Stärken und Vorteile einer schwachen zentralen Kohärenz:

Die Detailfokussierung, die bei Menschen mit schwacher zentraler Kohärenz auftritt, kann in bestimmten Bereichen als Stärke gelten. Viele autistische Menschen verfügen über außergewöhnliche Fähigkeiten in Bereichen, die hohe Präzision und Genauigkeit erfordern, wie zum Beispiel:

  • Mathematik und Naturwissenschaften: Autistische Menschen, die ein starkes Detailbewusstsein besitzen, können oft komplexe mathematische oder wissenschaftliche Probleme lösen, indem sie sich auf spezifische Daten oder Einzelheiten konzentrieren, die anderen Menschen entgehen.

  • Kunst und Musik: Einige autistische Menschen mit einer besonderen Wahrnehmung für Details sind in der Lage, komplizierte Muster oder Melodien zu erkennen und nachzubilden, was zu außergewöhnlichen Leistungen in Kunst und Musik führen kann.

  • Berufe mit hoher Präzision: In technischen oder handwerklichen Berufen, wo es auf Genauigkeit und Sorgfalt ankommt, kann die Detailorientierung von autistischen Menschen zu einer außergewöhnlichen Kompetenz führen.

  • Die Fähigkeit, Informationen genau und detailliert zu verarbeiten, bietet autistischen Menschen also eine einzigartige Perspektive, die in vielen Bereichen des Lebens als besondere Stärke gelten kann.

 

Herausforderungen durch schwache zentrale Kohärenz:

Trotz der potenziellen Stärken, die mit schwacher zentraler Kohärenz einhergehen, bringt sie auch Herausforderungen mit sich. Viele der sozialen und kommunikativen Schwierigkeiten, die autistische Menschen erleben, könnten auf diese unterschiedliche Art der Informationsverarbeitung zurückgeführt werden:

  • Probleme beim Erfassen des „großen Ganzen“: In sozialen Situationen oder beim Verstehen von abstrakten Konzepten kann es autistischen Menschen schwerfallen, die „Hauptidee“ zu erkennen oder mehrere Informationen zu einer umfassenden Bedeutung zusammenzuführen. Dies kann in der Schule oder im Beruf zu Schwierigkeiten führen, wenn es darum geht, komplexe Themen zu erfassen oder Prioritäten zu setzen.

  • Reizüberflutung: Die Detailorientierung kann in sensorischen Umgebungen zu einer Reizüberflutung führen, da autistische Menschen oft nicht in der Lage sind, unwichtige Informationen auszublenden. In einer lauten oder stark visuellen Umgebung könnte eine Person mit schwacher zentraler Kohärenz Schwierigkeiten haben, irrelevante Geräusche oder Bilder zu ignorieren, was zu Überforderung und Stress führen kann.

  • Soziale Interaktion: In sozialen Kontexten kann die schwache zentrale Kohärenz die Fähigkeit beeinträchtigen, subtile nonverbale Hinweise oder den emotionalen Kontext von Gesprächen zu erkennen. Autistische Menschen konzentrieren sich möglicherweise auf wörtliche Aussagen oder konkrete Details, anstatt den emotionalen Subtext einer Situation zu erfassen.

  • Probleme bei der Aufgabenorganisation: Viele autistische Menschen haben Schwierigkeiten, komplexe Aufgaben in einzelne Schritte zu unterteilen oder sich auf mehrere Aspekte eines Projekts gleichzeitig zu konzentrieren. Dies führt häufig zu Überforderung und Problemen bei der Organisation des Alltags.

 

Zentrale Kohärenz und Autismus-Forschung:

In den letzten Jahren hat sich die Forschung zur zentralen Kohärenz und Autismus weiterentwickelt. Das Modell der schwachen zentralen Kohärenz wird zwar immer noch verwendet, doch es ist mittlerweile Teil eines breiteren Verständnisses der kognitiven Verarbeitungsstile im Autismus. Einige Forscher argumentieren jedoch, dass autistische Menschen nicht unbedingt unfähig sind, das große Ganze zu sehen, sondern dass sie möglicherweise eine kognitive Präferenz für Details haben, die je nach Situation flexibel genutzt werden kann. In manchen Fällen können autistische Menschen in der Lage sein, global zu denken, wenn dies explizit gefordert wird, aber ihre natürliche Tendenz besteht darin, sich auf Details zu konzentrieren.

HFA (Hochfunktionaler Autismus)

Der Begriff "hochfunktionaler Autismus" (englisch: High-Functioning Autism, HFA) ist ein populärer Ausdruck, der häufig verwendet wird, um Menschen aus dem autistischen Spektrum zu beschreiben, die eine relativ gute kognitive und sprachliche Entwicklung aufweisen. Obwohl der Begriff sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Teilen der wissenschaftlichen und klinischen Gemeinschaft verbreitet ist, ist seine Verwendung nicht unumstritten und wird zunehmend infrage gestellt.

 

Definition von hochfunktionalem Autismus:

Hochfunktionaler Autismus bezieht sich traditionell auf Menschen, die im Rahmen des Autismus-Spektrums mit der Diagnose „Kanner-Syndrom“ (Frühkindlicher Autismus) diagnostiziert wurden, aber keine signifikanten kognitiven Beeinträchtigungen oder intellektuelle Defizite aufweisen. Diese Personen verfügen in der Regel über normale bis überdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten und sind sprachlich weitgehend altersgemäß entwickelt. Im Erwachsenenalter sind sie von Personen mit „Asperger-Syndrom“ nicht mehr zu unterscheiden.

 

Mit der Veröffentlichung des DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) im Jahr 2013 und später dem ICD-11 wurden jedoch frühere autistische Subtypen, wie das Asperger-Syndrom und der frühkindliche Autismus, unter dem gemeinsamen Begriff Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zusammengefasst. In dieser neuen Klassifikation wird nicht mehr zwischen verschiedenen Untergruppen auf der Basis von intellektuellen Fähigkeiten oder Sprachentwicklung unterschieden, sondern Autismus wird als Spektrum mit variierenden Schweregraden verstanden.

 

Herausforderungen und Missverständnisse:

Obwohl der Begriff „hochfunktional“ suggeriert, dass betroffene Personen nur geringfügige Einschränkungen im Alltag haben, ist diese Bezeichnung oft irreführend. Auch hochfunktionale Autisten stehen vor erheblichen Herausforderungen, die im sozialen, emotionalen und beruflichen Leben auftreten können.

  • Unsichtbare Schwierigkeiten: Hochfunktionale Autisten wirken äußerlich oft so, als könnten sie problemlos im Alltag funktionieren, doch die sozialen und sensorischen Herausforderungen bleiben bestehen. Diese „unsichtbaren“ Schwierigkeiten führen oft dazu, dass ihre Bedürfnisse unterschätzt werden, und sie erhalten möglicherweise nicht die notwendige Unterstützung.

  • Überforderung im Alltag: Die Fähigkeit, intellektuell zu funktionieren, bedeutet nicht, dass die betroffenen Personen gut mit sozialen oder sensorischen Überforderungen umgehen können. Sie können Schwierigkeiten haben, komplexe soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten oder in unvorhersehbaren, stressigen Situationen zu bestehen.

  • Fehlendes Verständnis: Menschen mit hochfunktionalem Autismus berichten oft, dass ihre Umwelt wenig Verständnis für ihre Schwierigkeiten zeigt. Da sie sprachlich und intellektuell kompetent erscheinen, werden ihre sozialen Defizite und ihre sensorischen Probleme oft als geringfügig oder nicht ernst genommen.

 

Kritik am Begriff „hochfunktionaler Autismus“:

In den letzten Jahren ist der Begriff „hochfunktional“ zunehmend unter Kritik geraten. Kritiker argumentieren, dass er das Leben der betroffenen Menschen zu stark vereinfacht und zu einem falschen Bild führt. Ein Hauptkritikpunkt ist, dass der Begriff suggeriert, dass hochfunktionale Autisten nur minimale Beeinträchtigungen hätten, während die Realität weitaus komplexer ist:

  • Subjektive Einstufung: Die Einstufung von jemandem als „hochfunktional“ basiert oft auf der Beurteilung ihrer kognitiven Fähigkeiten und ignoriert andere wichtige Lebensbereiche, wie das emotionale Wohlbefinden oder die Fähigkeit, im sozialen Umfeld zu funktionieren.

  • Stigmatisierung und Missverständnisse: Der Begriff kann dazu führen, dass die Herausforderungen, mit denen hochfunktionale Autisten konfrontiert sind, übersehen oder abgetan werden. Dies erschwert es ihnen, angemessene Unterstützung zu erhalten, da Außenstehende oft nicht erkennen, dass auch sie auf Hilfe angewiesen sind.

  • Fokus auf Defizite statt Stärken: Die Einteilung in „hochfunktional“ oder „niedrigfunktional“ kann dazu führen, dass der Fokus stärker auf den Schwierigkeiten der betroffenen Personen liegt, anstatt ihre Stärken und Fähigkeiten anzuerkennen und zu fördern.

Stimming

„Stimming“ (kurz für „self-stimulatory behavior“, auf Deutsch: selbststimulierendes Verhalten) ist ein Begriff, der in engem Zusammenhang mit Autismus steht. Diese repetitiven Bewegungen oder Geräusche sind ein häufiges Merkmal vieler Menschen auf dem Autismus-Spektrum. Obwohl Stimming von Außenstehenden oft als ungewöhnlich oder störend wahrgenommen wird, spielt es für Menschen mit Autismus eine wichtige Rolle. Es kann als Bewältigungsmechanismus, Mittel zur emotionalen Regulation und Ausdrucksform dienen.

 

Was ist Stimming?

Stimming beschreibt wiederholte, oft rhythmische Bewegungen oder Geräusche, die von einer Person ausgeführt werden. Diese Verhaltensweisen können in vielen verschiedenen Formen auftreten und sind nicht auf Menschen mit Autismus beschränkt. Auch neurotypische Menschen „stimmen“ gelegentlich – z.B. wenn sie mit einem Stift klicken, mit dem Bein wippen oder mit den Fingern trommeln. Bei Autismus ist das Stimming jedoch oft ausgeprägter und vielfältiger.

 

Typische Stimming-Verhaltensweisen können umfassen:

 

  • Körperliche Bewegungen: Flattern mit den Händen, Wippen des Körpers, Schaukeln, Klopfen mit den Fingern oder das Gehen auf Zehenspitzen.

  • Wiederholte Geräusche: Summen, Singen, das Nachahmen von Geräuschen oder Wörtern, rhythmisches Klatschen.

  • Visuelle Stimulation: Blinzeln, Augenrollen oder das Beobachten von sich drehenden Objekten, wie etwa Ventilatoren oder drehenden Rädern.

  • Taktile Stimulation: Streichen über bestimmte Texturen, das Drücken oder Drehen von Gegenständen oder das wiederholte Reiben der Haut.

  • Orale Stimulation: Wiederholtes Kauen auf Objekten wie Stiften oder Kleidungsstücken, Knirschen mit den Zähnen.

 

Warum stimmen Menschen mit Autismus?

 

  • Stimming erfüllt für Menschen mit Autismus verschiedene wichtige Funktionen. Es kann helfen, emotionale Zustände zu regulieren, Überstimulation zu bewältigen und Stress abzubauen. Hier sind einige Gründe, warum Autist*innen stimming-Verhaltensweisen zeigen:

  • Selbstregulation: Autistische Menschen sind häufig überempfindlich oder unterempfindlich gegenüber sensorischen Reizen (z.B. Geräusche, Licht, Berührungen). Stimming kann ihnen helfen, ihre sensorische Wahrnehmung zu regulieren, indem sie sich entweder vor Reizüberflutung schützen oder sensorische Unterstimulation kompensieren.

  • Stressabbau: In stressigen oder überwältigenden Situationen kann Stimming eine beruhigende Wirkung haben. Wiederholte Bewegungen oder Geräusche schaffen eine Art „sicheren Hafen“ und geben autistischen Menschen ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit.

  • Freude und Selbststimulation: Stimming wird nicht nur als Reaktion auf negative Emotionen eingesetzt. Es kann auch positive Gefühle hervorrufen, indem es das Gehirn auf angenehme Weise stimuliert. Dies ist besonders der Fall bei Stimming-Verhaltensweisen, die sensorische Freude bereiten, wie z.B. das Betrachten von bunten, sich drehenden Objekten oder das Streicheln von weichen Materialien.

  • Kommunikation und Ausdruck: Für viele Menschen mit Autismus ist Stimming eine Möglichkeit, Gefühle auszudrücken, insbesondere wenn sie Schwierigkeiten haben, diese verbal zu kommunizieren. Eine Person könnte stimming-Verhaltensweisen zeigen, wenn sie aufgeregt, glücklich, ängstlich oder frustriert ist.

 

Häufige Missverständnisse über Stimming:

 

  • In der Öffentlichkeit wird Stimming oft als problematisch oder unnormal angesehen, weil es von den typischen Verhaltensweisen neurotypischer Menschen abweicht. Dies führt häufig zu Missverständnissen und negativen Reaktionen von Außenstehenden. Hier sind einige gängige Missverständnisse über Stimming:

  • Stimming ist keine „schlechte Angewohnheit“: Viele Menschen gehen fälschlicherweise davon aus, dass Stimming „abgewöhnt“ werden sollte, weil es ungewöhnlich aussieht oder sozial unangemessen wirkt. Für autistische Menschen ist Stimming jedoch ein natürlicher Teil ihrer Selbstregulation und kann sie sogar vor emotionalen Zusammenbrüchen oder Meltdowns bewahren.

  • Stimming bedeutet nicht immer Stress: Nicht jede Form von Stimming ist ein Zeichen von Überforderung oder Angst. Manchmal stimmen Menschen mit Autismus einfach, weil es angenehm ist oder Spaß macht. Eltern und Bezugspersonen sollten nicht automatisch davon ausgehen, dass Stimming auf ein Problem hinweist.

  • Stimming ist keine Ablenkung vom Lernen: In vielen Schulen und Bildungseinrichtungen wird Stimming als „Ablenkung“ gesehen, die das Lernen beeinträchtigt. In Wirklichkeit kann Stimming autistischen Menschen helfen, ihre Konzentration aufrechtzuerhalten und ihre Umwelt besser zu verarbeiten.

 

Stimming und die Bedeutung von Akzeptanz:

Das Ziel im Umgang mit Stimming sollte nicht darin bestehen, das Verhalten zu „eliminieren“, sondern ein besseres Verständnis und eine größere Akzeptanz für diese Verhaltensweisen zu entwickeln. Es ist wichtig, die Bedürfnisse und das Wohlbefinden von autistischen Menschen zu respektieren. Eltern, Lehrkräfte und Betreuer*innen sollten Stimming als natürlichen Teil des Lebens autistischer Menschen betrachten und nicht versuchen, es ohne triftigen Grund zu unterdrücken.

In einigen Fällen kann es jedoch notwendig sein, Stimming-Verhalten zu modifizieren, insbesondere wenn es sich um selbstverletzendes Verhalten handelt (z.B. wenn sich jemand wiederholt selbst schlägt) oder das Umfeld stark stört (z.B. in der Schulklasse). In solchen Fällen sollten alternative Strategien entwickelt werden, um das Bedürfnis nach sensorischer Stimulation oder emotionaler Regulation auf sicherere Weise zu erfüllen.

 

Unterstützung und Förderung von gesundem Stimming:

Anstatt Stimming zu unterdrücken, sollten wir bestrebt sein, eine Umgebung zu schaffen, in der Menschen mit Autismus sicher stimming-Verhalten ausüben können. Hier sind einige Ansätze, um autistischen Menschen dabei zu helfen, ihre Stimming-Bedürfnisse zu erfüllen:

 

  • Ermutigung von sensorisch angemessenem Stimming: Eltern und Betreuer*innen können autistische Kinder oder Erwachsene dazu ermutigen, gesunde und nicht schädliche Stimming-Methoden zu finden, die ihnen helfen, sich zu regulieren. Dies könnte die Bereitstellung von sensorischen Spielzeugen oder ruhigen Rückzugsorten beinhalten.

  • Sensibilisierung der Umgebung: In Bildungseinrichtungen oder Arbeitsplätzen sollte Stimming als normaler Teil des Verhaltens akzeptiert werden. Lehrkräfte und Arbeitgeber können über die Bedeutung von Stimming informiert werden, um ein unterstützendes Umfeld zu schaffen.

  • Unterstützung durch Ergotherapie: Ergotherapeut*innen können dabei helfen, geeignete sensorische Strategien zu entwickeln, die autistischen Menschen helfen, ihre Umgebung besser zu bewältigen und sicher zu stimmen. Sie können auch dabei unterstützen, schädliches Stimming zu reduzieren.

 

Stimming ist ein essenzielles Verhalten für viele Menschen auf dem Autismus-Spektrum, das ihnen hilft, ihre sensorische Wahrnehmung zu regulieren, Stress abzubauen und positive Gefühle zu erzeugen. Anstatt Stimming als „ungewöhnlich“ oder „störend“ zu betrachten, sollten wir seine Bedeutung im Leben autistischer Menschen verstehen und respektieren.

Noch mehr zum Thema Stimming findest Du in unserem Fachjournal!

Autismus und Stress

Menschen im Autismus-Spektrum erleben Stress oft auf eine Weise, die sich von der neurotypischen Bevölkerung unterscheiden kann. Die Gründe für erhöhten Stress bei Autismus sind vielfältig und reichen von sensorischer Überreizung bis hin zu sozialen Missverständnissen. Stress kann bei Autismus sowohl kurzfristige als auch langfristige Auswirkungen auf das Wohlbefinden haben. Gleichzeitig gibt es Strategien und Ansätze, um mit diesem Stress umzugehen und die Lebensqualität zu verbessern.

 

Ursachen von Stress bei Autismus:

Autistische Menschen sind oft anfälliger für Stress als neurotypische Menschen. Dies liegt an den besonderen Herausforderungen, denen sie im Alltag begegnen. Zu den häufigsten Ursachen von Stress bei Autismus zählen:

 

  • Sensorische Überlastung: Viele autistische Menschen haben eine verstärkte Wahrnehmung von sensorischen Reizen. Dies bedeutet, dass Geräusche, Gerüche, Lichter oder Berührungen intensiver wahrgenommen werden. In einer sensorisch überfordernden Umgebung kann dies schnell zu Stress führen. Beispiele hierfür sind laute Geräusche in einem belebten Einkaufszentrum oder grelle Lichter in einem Büro.

  • Soziale Interaktionen: Menschen mit Autismus haben häufig Schwierigkeiten, nonverbale soziale Hinweise wie Mimik, Gestik und Tonfall zu interpretieren. Dies kann zu Missverständnissen und sozialer Überforderung führen. Der Druck, in sozialen Situationen angemessen zu reagieren, sowie die Sorge, soziale Fehler zu machen, sind häufige Stressquellen.

  • Veränderungen und Unsicherheiten: Viele autistische Menschen bevorzugen Routine und Vorhersehbarkeit. Veränderungen im Tagesablauf, unerwartete Ereignisse oder unvorhergesehene Anforderungen können erheblichen Stress verursachen. Eine plötzliche Planänderung, wie z.B. eine spontane Einladung oder der Wechsel zu einem neuen Arbeitsplatz, kann besonders belastend sein.

  • Kommunikationsprobleme: Manche Menschen mit Autismus haben Schwierigkeiten, ihre Bedürfnisse und Gefühle klar auszudrücken, besonders wenn sie in stressigen oder überwältigenden Situationen sind. Dies kann zu Frustration führen, da sie sich missverstanden oder nicht in der Lage fühlen, Unterstützung zu suchen.

  • Reizüberflutung: In einer Welt, die oft auf neurotypische Menschen zugeschnitten ist, können autistische Menschen ständig mit einer Flut von Reizen konfrontiert werden, die sie überfordern. Der Mangel an Rückzugsorten, in denen sie sich erholen können, verstärkt den Stress.

  • Perfektionismus und Leistungsdruck: Einige autistische Menschen setzen sich selbst unter starken Druck, perfekte Leistungen zu erbringen, insbesondere in Schule oder Beruf. Diese hohen Ansprüche können zu anhaltendem Stress und Burnout führen, besonders wenn sie das Gefühl haben, nicht den Erwartungen zu entsprechen.

 

Auswirkungen von Stress auf autistische Menschen:

Der Stress, dem autistische Menschen ausgesetzt sind, kann sowohl körperliche als auch emotionale Auswirkungen haben. Zu den häufigsten Folgen zählen:

 

  • Meltdowns und Shutdowns: Ein Meltdown ist eine intensive emotionale Reaktion, die auftritt, wenn der Stresspegel einen Höhepunkt erreicht. Dies kann sich in Wutausbrüchen, Weinen oder körperlicher Anspannung äußern. Ein Shutdown hingegen ist das Gegenteil: Die betroffene Person zieht sich zurück, wird still und zeigt wenig bis gar keine Reaktion auf ihre Umgebung. Beide Reaktionen sind Anzeichen dafür, dass das Stresslevel das Bewältigungsvermögen übersteigt.

  • Erhöhte Angst und Depression: Chronischer Stress kann zu langfristigen psychischen Gesundheitsproblemen wie Angststörungen oder Depressionen führen. Autist*innen sind aufgrund der ständigen Überforderung durch ihre Umwelt besonders anfällig für diese Probleme.

  • Physische Symptome: Stress kann auch zu physischen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Magenproblemen oder Erschöpfung führen. Diese Symptome können den Alltag weiter erschweren und einen Teufelskreis aus Stress und körperlicher Belastung verstärken.

  • Rückzug und Isolation: Viele autistische Menschen ziehen sich als Reaktion auf ständige Stressoren von sozialen Interaktionen zurück, um sich selbst zu schützen. Dieser Rückzug kann jedoch zu Einsamkeit und einem Mangel an sozialer Unterstützung führen.

 

Bewältigungsstrategien für Stress bei Autismus:

Es gibt eine Vielzahl von Strategien, die autistischen Menschen helfen können, mit Stress umzugehen und ihre Lebensqualität zu verbessern. Diese Strategien können individuell angepasst werden, um den spezifischen Bedürfnissen der betroffenen Person gerecht zu werden:

 

  • Routinen schaffen: Struktur und Routine sind für viele autistische Menschen ein wichtiger Schutz vor Stress. Ein geregelter Tagesablauf bietet Vorhersehbarkeit und Stabilität, was dabei hilft, unerwartete Stressoren zu minimieren. Familienmitglieder, Lehrer und Arbeitgeber können dabei unterstützen, klare Zeitpläne zu erstellen, die so wenige Überraschungen wie möglich enthalten.

  • Sensorische Anpassungen: Die Schaffung einer Umgebung, die sensorischen Stress reduziert, ist von großer Bedeutung. Dies kann bedeuten, dass laute Umgebungen vermieden werden oder dass beruhigende sensorische Hilfsmittel wie Geräuschunterdrückungskopfhörer, Sonnenbrillen oder weiche Materialien zur Verfügung stehen. Auch ein ruhiger Rückzugsort, in den sich die Person zurückziehen kann, hilft, Überreizung zu vermeiden.

  • Kommunikationshilfen: Wenn autistische Menschen Schwierigkeiten haben, ihre Gefühle oder Bedürfnisse verbal zu äußern, können alternative Kommunikationsmethoden wie schriftliche Kommunikation, Bilder oder Zeichensprache hilfreich sein. Diese Methoden können Stress abbauen, indem sie eine klarere und effektivere Ausdrucksmöglichkeit bieten.

  • Achtsamkeit und Entspannungstechniken: Methoden wie Achtsamkeit, Meditation oder tiefe Atemübungen können autistischen Menschen helfen, ihren Stress zu regulieren. Durch das Erlernen von Entspannungstechniken können sie in stressigen Situationen ruhiger bleiben und ihre Emotionen besser steuern.

  • Soziale Unterstützung: Ein unterstützendes Netzwerk aus Familie, Freund*innen und Fachkräften ist von unschätzbarem Wert. Der Zugang zu Vertrauenspersonen, die ein tiefes Verständnis für die besonderen Bedürfnisse und Herausforderungen von autistischen Menschen haben, kann dazu beitragen, Stress abzubauen. Ein Umfeld, das Verständnis und Geduld zeigt, hilft autistischen Menschen, sich sicher und unterstützt zu fühlen.

  • Ergotherapie und sensorische Integration: Ergotherapie kann autistischen Menschen helfen, sensorische Reize besser zu verarbeiten und Techniken zur Bewältigung sensorischer Überreizung zu erlernen. Sensorische Integrationstherapien zielen darauf ab, die Fähigkeit des Nervensystems zu verbessern, Reize zu verarbeiten und eine angemessene Reaktion darauf zu finden.

  • Selbstfürsorge und Auszeiten: Regelmäßige Pausen und Auszeiten sind essenziell, um Stress vorzubeugen und sich zu erholen. Es ist wichtig, dass autistische Menschen die Möglichkeit haben, sich zurückzuziehen und ihre Energiereserven aufzufüllen. Dies kann durch sensorische Aktivitäten, Hobbys oder einfach durch Ruhe geschehen.

Neurodiversität

Der Begriff Neurodiversität (teilweise auch "Neurodivergenz") hat in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen und stellt einen grundlegenden Perspektivenwechsel im Umgang mit neurologischen Unterschieden, insbesondere im Kontext von Autismus, dar. Anstatt neurologische Abweichungen wie Autismus als Defizite oder Störungen zu betrachten, hebt die Neurodiversitätsbewegung hervor, dass diese Unterschiede Teil der natürlichen menschlichen Vielfalt sind.

 

Was bedeutet Neurodiversität?

Der Begriff Neurodiversität geht auf die australische Soziologin Judy Singer zurück, die ihn in den 1990er Jahren prägte. Er beschreibt die Vielfalt neurologischer Konstitutionen als einen natürlichen und wertvollen Bestandteil der menschlichen Evolution. So wie Menschen in Bezug auf ethnische Herkunft, Geschlecht oder körperliche Merkmale unterschiedlich sind, gibt es auch Unterschiede in der neurologischen Veranlagung – diese umfassen unter anderem Autismus, ADHS, Dyslexie, Dyspraxie und andere neurobiologische Entwicklungsformen.

 

Der Neurodiversitätsansatz widersetzt sich der traditionellen Sichtweise, nach der neurologische Abweichungen als pathologisch gelten. Stattdessen wird argumentiert, dass Menschen mit neurologischen Unterschieden wertvolle Perspektiven und Fähigkeiten haben, die in einer monolithischen, neurotypisch ausgerichteten Gesellschaft oft nicht ausreichend anerkannt werden.

 

Autismus im Neurodiversitätskonzept:

Autismus ist eine der bekanntesten und am häufigsten diskutierten Formen von Neurodiversität. Traditionell wurde Autismus als „Störung“ oder „Krankheit“ verstanden, die behandelt oder „korrigiert“ werden müsse. Autistische Menschen wurden oft mit dem Ziel therapiert, sie an neurotypische Standards anzupassen, was häufig auf eine Unterdrückung oder Anpassung ihres natürlichen Verhaltens hinauslief. Viele autistische Menschen wehren sich jedoch zunehmend gegen diese Sichtweise.

Im Neurodiversitätskonzept wird Autismus nicht als Krankheit betrachtet, sondern als eine andere Art des Seins. Autistische Menschen sind nicht „defekt“, sondern haben eine andere Wahrnehmung der Welt, die genauso gültig ist wie die neurotypische Wahrnehmung. Die Herausforderungen, die mit Autismus einhergehen – wie Schwierigkeiten bei der sozialen Interaktion oder sensorische Überempfindlichkeiten – sind in dieser Sichtweise nicht das Ergebnis eines Fehlers im Gehirn, sondern oft das Resultat einer nicht inklusiven Umwelt.

 

Stärken und Herausforderungen im Zusammenhang mit Autismus:

Das Neurodiversitätsmodell betont die Stärken und einzigartigen Fähigkeiten, die mit Autismus verbunden sein können. Autistische Menschen zeichnen sich oft durch außergewöhnliche Detailgenauigkeit, hohe Konzentrationsfähigkeit, starkes logisches Denken und besondere Interessen in bestimmten Themenbereichen aus. Sie haben häufig ein tiefes Bedürfnis nach Ehrlichkeit und Direktheit und sind in der Lage, Muster zu erkennen, die anderen Menschen vielleicht entgehen.

Gleichzeitig ist es wichtig anzuerkennen, dass autistische Menschen auch mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert sind, insbesondere in einer Gesellschaft, die auf neurotypische Normen ausgerichtet ist. Viele Schwierigkeiten, die autistische Menschen erleben, resultieren nicht direkt aus ihrem neurologischen Zustand, sondern aus der mangelnden Anpassung der Umwelt. Ein Beispiel hierfür ist die sensorische Überlastung in stark reizüberfluteten Umgebungen, die für neurotypische Menschen unproblematisch, für autistische Menschen jedoch extrem belastend sein kann.

 

Ableismus und die Bedeutung von Inklusion

Ein zentrales Anliegen der Neurodiversitätsbewegung ist es, sog. „Ableismus“ (Diskriminierung und Benachteiligung aufgrund von Behinderungen oder neurologischen Unterschieden) zu bekämpfen. Menschen mit neurologischen Abweichungen werden oft marginalisiert und von der Gesellschaft als „defizitär“ wahrgenommen. Die Neurodiversitätsbewegung fordert, diese Vorurteile zu hinterfragen und neurodivergente Menschen nicht auf ihre Herausforderungen zu reduzieren.

 

Der Ansatz der Neurodiversität fordert außerdem eine inklusive Gesellschaft, die sich den Bedürfnissen aller Menschen anpasst, anstatt von neurodivergenten Menschen zu verlangen, sich an die vorherrschenden Normen anzupassen. Dies könnte in der Praxis bedeuten, sensorische Überlastungen in öffentlichen Räumen zu reduzieren, flexible Arbeitsmodelle für neurodivergente Menschen zu schaffen und in Schulen ein Umfeld zu fördern, das unterschiedliche Lernstile und Fähigkeiten berücksichtigt.

 

Kritik und Kontroversen um das Neurodiversitätskonzept:

Trotz seiner zunehmenden Popularität ist das Konzept der Neurodiversität nicht unumstritten. Kritiker argumentieren, dass es die Herausforderungen und das Leiden vieler neurodivergenter Menschen, insbesondere solcher mit schwereren Formen von Autismus, bagatellisieren könnte. Eltern von Kindern mit schwerwiegenderen Beeinträchtigungen könnten sich durch das Neurodiversitätsmodell nicht ausreichend vertreten fühlen, da es die Unterstützung, die ihre Kinder möglicherweise benötigen, nicht genug hervorhebt.

Befürworter der Neurodiversität betonen jedoch, dass die Anerkennung von Autismus als Teil der natürlichen menschlichen Vielfalt nicht bedeutet, dass die Bedürfnisse oder Herausforderungen neurodivergenter Menschen ignoriert werden sollten. Vielmehr sollte der Fokus darauf liegen, ihnen in einer respektvollen und nicht-stigmatisierenden Weise die notwendige Unterstützung zu bieten, ohne dabei das Ziel zu verfolgen, sie zu „korrigieren“.

 

Die Bedeutung des Neurodiversitätsmodells für autistische Menschen:

Für viele autistische Menschen hat das Neurodiversitätsmodell eine befreiende Wirkung. Es gibt ihnen die Möglichkeit, ihre neurologische Veranlagung als Teil ihrer Identität zu akzeptieren und sich nicht ständig an gesellschaftliche Normen anpassen zu müssen. Diese Akzeptanz stärkt das Selbstwertgefühl und fördert die psychische Gesundheit, da autistische Menschen ermutigt werden, ihre Unterschiede als Stärken und nicht als Schwächen zu sehen.

Durch den Neurodiversitätsansatz wird auch die Notwendigkeit betont, autistische Menschen stärker in Entscheidungsprozesse einzubeziehen, die ihre eigenen Lebensumstände betreffen. „Nichts über uns ohne uns“ ist ein Leitsatz, der in der Neurodiversitätsbewegung häufig zu hören ist. Er unterstreicht die Bedeutung der Autonomie und Selbstbestimmung autistischer Menschen in Fragen, die ihre Leben betreffen, sei es in Bezug auf Bildung, Arbeitswelt oder medizinische Versorgung.

Geschlechteridentität

Das Thema Geschlechteridentität und Autismus gewinnt zunehmend an Aufmerksamkeit, da Forschung und persönliche Erfahrungsberichte zeigen, dass autistische Menschen im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung häufiger von den traditionellen binären Geschlechterrollen abweichen. Während Autismus eine neurologische Variation beschreibt, betrifft Geschlechteridentität das persönliche Empfinden des eigenen Geschlechts, das sich von dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht unterscheiden kann. Viele autistische Menschen berichten, dass sie sich nicht in die herkömmlichen Vorstellungen von Männlichkeit oder Weiblichkeit einordnen können oder sich als nicht-binär, genderfluid oder transgender identifizieren.

 

Autismus und Geschlechterdiversität – e­in statistisches Phänomen:

Studien und Umfragen haben gezeigt, dass es unter autistischen Menschen eine überproportionale Anzahl von Personen gibt, die eine Geschlechtsidentität außerhalb des binären Systems (männlich/weiblich) haben. Laut einer Untersuchung, die 2014 von der Autism Research Centre an der University of Cambridge durchgeführt wurde, identifizieren sich autistische Menschen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als transgender oder nicht-binär im Vergleich zu neurotypischen Menschen. Dieses auffällige statistische Phänomen wirft Fragen auf, warum diese Verbindung besteht. Es gibt verschiedene Hypothesen, die versuchen, diese Überschneidung zu erklären:

 

  • Geringere Anpassung an soziale Normen: Autistische Menschen legen oft weniger Wert darauf, gesellschaftlichen Erwartungen und Normen zu entsprechen. Sie können freier in ihrer Selbstwahrnehmung sein und empfinden möglicherweise weniger Druck, den herkömmlichen Geschlechtsnormen zu folgen. Dies könnte ihnen ermöglichen, ihre eigene Geschlechtsidentität zu erkunden und auszudrücken, ohne sich so stark an traditionelle Rollenbilder gebunden zu fühlen.

  • Kognitive und sensorische Unterschiede: Autistische Menschen haben häufig eine andere Wahrnehmung ihres Körpers und ihres Umfelds. Dies könnte dazu beitragen, dass sie ihre Geschlechtsidentität auf eine andere Weise erleben oder ausdrücken als neurotypische Menschen. Auch das Verhältnis zur eigenen Körperlichkeit – oft beeinflusst durch sensorische Sensibilität – könnte eine Rolle spielen, wenn es um das Erleben und den Ausdruck von Geschlecht geht.

  • Stärkeres Bewusstsein für Identität: Einige Forscher vermuten, dass autistische Menschen aufgrund ihrer oft analytischen und introspektiven Denkweise eher in der Lage sind, ihre eigene Identität zu hinterfragen und genauer zu erforschen. Diese erhöhte Selbstreflexion könnte zu einem tieferen Verständnis der eigenen Geschlechtsidentität führen.

 

Herausforderungen für autistische Menschen im Zusammenhang mit Geschlechteridentität:

Während die Verbindung zwischen Autismus und geschlechtlicher Vielfalt spannend ist, bringt sie auch erhebliche Herausforderungen mit sich. Autistische Menschen, die sich außerhalb der binären Geschlechterrollen bewegen, stehen vor einem doppelten Stigma: Zum einen müssen sie sich mit den Schwierigkeiten auseinandersetzen, die mit ihrem Autismus verbunden sind, zum anderen müssen sie sich oft mit den Vorurteilen und Diskriminierungen gegenüber ihrer Geschlechtsidentität auseinandersetzen. Zu den spezifischen Herausforderungen gehören:

 

  • Diskriminierung und Stigmatisierung: Transgender- und nicht-binäre Menschen werden oft mit Ablehnung und Vorurteilen konfrontiert. Autistische Menschen, die ebenfalls transgender oder nicht-binär sind, können eine verstärkte Form der Diskriminierung erfahren, da sie gleichzeitig mit Vorurteilen gegenüber ihrer neurologischen und geschlechtlichen Identität konfrontiert sind.

  • Fehlende Unterstützung und Missverständnisse im medizinischen Bereich: Für viele autistische Menschen, die sich als transgender oder nicht-binär identifizieren, kann der Zugang zu adäquater Gesundheitsversorgung eine Herausforderung darstellen. Medizinische Fachkräfte sind oft nicht ausreichend geschult, um die Bedürfnisse von Menschen, die sowohl autistisch als auch transgender sind, zu verstehen. In der medizinischen Versorgung kann es daher an Sensibilität und Verständnis fehlen, insbesondere in Bezug auf die Hormontherapie, geschlechtsangleichende Behandlungen oder psychologische Unterstützung.

  • Soziale Isolation und psychische Gesundheit: Die soziale Isolation, die viele autistische Menschen erleben, kann sich bei denen, die sich mit ihrer Geschlechtsidentität im Konflikt befinden, noch verstärken. Die fehlende soziale Unterstützung kann zu psychischen Belastungen wie Angstzuständen, Depressionen und einem erhöhten Risiko für Suizidgedanken führen. Studien haben gezeigt, dass transgender und nicht-binäre Menschen allgemein ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen haben, und dieses Risiko kann bei autistischen Menschen aufgrund der kombinierten Herausforderungen weiter erhöht sein.

  • Kommunikationsbarrieren: Autistische Menschen haben oft Schwierigkeiten, ihre Emotionen und Bedürfnisse klar zu kommunizieren. Wenn dies mit der Erkundung oder dem Ausdruck einer Geschlechtsidentität verbunden ist, kann dies zusätzlichen Stress verursachen. Manche autistischen Menschen finden es schwer, über ihre Geschlechtsidentität zu sprechen, weil sie nicht wissen, wie sie die richtigen Worte dafür finden sollen, oder weil sie Angst haben, missverstanden zu werden.

 

Unterstützung und Inklusion: Was kann helfen?

Es ist entscheidend, dass autistische Menschen, die ihre Geschlechtsidentität hinterfragen oder als transgender oder nicht-binär identifiziert sind, Zugang zu Unterstützung und inklusiven Räumen haben, in denen sie ihre Identität ohne Angst vor Diskriminierung erforschen können. Einige der besten Praktiken umfassen:

 

  • Schaffung sicherer und inklusiver Umgebungen: Sowohl in Bildungseinrichtungen, am Arbeitsplatz als auch im sozialen Umfeld ist es wichtig, sichere Räume zu schaffen, in denen Menschen ihre Geschlechtsidentität frei ausdrücken können. Das bedeutet auch, dass es keinen Druck geben sollte, sich in bestimmte Normen zu fügen oder sich zu verstecken.

  • Aufklärung und Sensibilisierung: Schulen, Gesundheitsdienstleister und das soziale Umfeld sollten besser über die Schnittstelle von Autismus und Geschlechteridentität informiert werden. Sensibilisierungsprogramme und Trainings können dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und eine inklusivere Gesellschaft zu fördern.

  • Individuell angepasste Unterstützung: Es ist wichtig, autistische Menschen mit geschlechtlicher Vielfalt in ihrem persönlichen Prozess zu unterstützen, sei es durch psychologische Beratung, medizinische Versorgung oder einfach durch ein verständnisvolles soziales Netzwerk. Die Bedürfnisse jedes Einzelnen sind unterschiedlich, und die Unterstützung sollte flexibel und individuell anpassbar sein.

  • Selbstbestimmung stärken: Autistische Menschen sollten ermutigt werden, ihre eigene Geschlechtsidentität auf ihre Weise zu erkunden und auszudrücken. Die Erhöhung ihrer Selbstbestimmung in Bezug auf ihre Identität und ihr Wohlbefinden ist ein zentraler Faktor für ihre psychische Gesundheit.

 

Die Beziehung zwischen Autismus und Geschlechteridentität ist komplex und vielschichtig. Autistische Menschen, die sich als transgender oder nicht-binär identifizieren, navigieren oft durch mehrere Herausforderungen gleichzeitig, wobei sie sich sowohl mit den sozialen Erwartungen an Geschlecht als auch mit den Anforderungen an neurologische Normen auseinandersetzen müssen. Es ist entscheidend, dass sie in einer Welt, die oft starr und ausgrenzend ist, auf Akzeptanz, Verständnis und Unterstützung stoßen.

Empathie

Autismus wird oft mit dem Vorurteil verbunden, autistische Menschen hätten keine Empathie oder seien nicht in der Lage, die Gefühle anderer zu verstehen. Diese Annahme führt häufig zu Missverständnissen und stigmatisierenden Ansichten über Menschen im Autismus-Spektrum. In Wirklichkeit ist das Verhältnis zwischen Autismus und Empathie weitaus komplexer. Autistische Menschen können Mitgefühl und Einfühlungsvermögen empfinden, doch ihre Art, Emotionen wahrzunehmen und darauf zu reagieren, unterscheidet sich oft von der neurotypischen Norm.

 

Die Diagnosekriterien des ICD-11 sprechen hinsichtlich der Empathie bei Autismus von Einschränkungen oder Defiziten in der „Fähigkeit, sich in die Gefühle, Gefühlszustände und Einstellungen anderer hineinzuversetzen und darauf zu reagieren.“

 

Was bedeutet Empathie?

Was Empathie genau ist, ist wissenschaftlich stark umstritten. Ein gängiges Konzept unterteilt die Empathie in zwei Hauptformen:

 

  • Kognitive Empathie: Dies bezieht sich auf die Fähigkeit, die Perspektive einer anderen Person zu verstehen und sich gedanklich in deren Lage zu versetzen. Es geht darum, die Gedanken und Gefühle anderer zu erkennen und zu begreifen, was diese Person gerade durchmacht.

  • Emotionale Empathie: Diese Form der Empathie beschreibt die Fähigkeit, die Emotionen anderer zu fühlen und emotional auf sie zu reagieren. Sie umfasst die Fähigkeit, Mitgefühl oder Trost anzubieten, wenn man das Leid oder die Freude eines anderen Menschen erkennt.

 

Während bei neurotypischen Menschen beide Formen der Empathie in unterschiedlichem Ausmaß vorhanden sein können, zeigen autistische Menschen oft eine Variation in der Ausprägung dieser beiden Empathieformen. Laut den Diagnosekriterien des ICD-11 können Einschränkungen in beiden Dimensionen vorhanden sein.

 

Kognitive Empathie und Autismus:

Es stimmt, dass viele autistische Menschen Schwierigkeiten mit der kognitiven Empathie haben können, insbesondere wenn es um das Erkennen von subtilen sozialen Signalen geht. Dieses Phänomen wird oft als „Theory of Mind“ (ToM) bezeichnet – die Fähigkeit, sich vorzustellen, was eine andere Person denkt oder fühlt. Menschen im Autismus-Spektrum können es schwerer haben, nonverbale Hinweise wie Mimik, Tonfall oder Körpersprache zu interpretieren, die in sozialen Interaktionen entscheidend sind, um die Gefühle und Gedanken anderer zu verstehen.

Das bedeutet jedoch nicht, dass autistische Menschen nicht in der Lage sind, zu erkennen, dass andere Menschen Emotionen haben. Es bedeutet vielmehr, dass der Prozess des Entschlüsselns dieser Emotionen herausfordernder sein kann. In manchen Fällen kann es notwendig sein, dass Emotionen direkter oder expliziter kommuniziert werden, damit sie von autistischen Menschen erkannt werden.

 

Emotionale Empathie und Autismus:

Im Gegensatz zu kognitiver Empathie zeigen viele autistische Menschen oft eine ausgeprägte emotionale Empathie. Sie können tiefes Mitgefühl und intensive emotionale Reaktionen auf das Leid oder die Freude anderer empfinden, wenn sie die Emotionen einmal erkannt haben. Tatsächlich berichten viele autistische Menschen von einer überwältigenden emotionalen Sensibilität, die zu Stress führen kann, weil sie stark auf die Gefühle anderer reagieren. Allerdings kann auch die emotionale Empathie bei Autisten beeinträchtigt sein. Häufig findet von Seiten der Betroffenen eine für Autisten typische Verwechslung von Empathie mit der bloßen Projektion eigener Emotionen statt. Dies wird deutlich, wenn Menschen im Autismus-Spektrum zum Beispiel von „Empathie mit Gegenständen“ sprechen, welche realistisch gesehen jedoch gar kein Innenleben und somit keine eigenen Emotionen oder Gedanken haben.

 

Das „Double Empathy“-Problem:

Ein relativ neues Konzept in der Autismusforschung ist die Theorie des „Double Empathy“-Problems, die von dem Forscher Damian Milton entwickelt wurde. Diese Theorie besagt, dass das Missverständnis über Empathie zwischen neurotypischen und autistischen Menschen auf einem gegenseitigen Verständnisproblem basiert. Während autistische Menschen möglicherweise Schwierigkeiten haben, die sozialen Codes und Emotionen neurotypischer Menschen zu interpretieren, gilt umgekehrt auch, dass neurotypische Menschen häufig Probleme haben, die Perspektive und das Kommunikationsverhalten von autistischen Menschen zu verstehen. Das Double Empathy-Problem legt nahe, dass die Schwierigkeiten in der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht allein auf autistische Menschen zurückzuführen sind. Stattdessen handelt es sich um ein gegenseitiges Problem des Verständnisses. Autistische Menschen kommunizieren oft direkter und weniger auf nonverbale Hinweise angewiesen, was von neurotypischen Menschen als unpassend oder distanziert wahrgenommen werden kann. Umgekehrt kann die indirekte und stark nonverbale Kommunikation neurotypischer Menschen für autistische Personen verwirrend sein. Gegen diese Hypothese spricht jedoch, dass autistische Menschen oft auch zwischenmenschliche Schwierigkeiten haben, wenn sie untereinander kommunizieren. Zudem sind Mimik und Tonfall bei Autismus häufig stark reduziert, was es dem Gegenüber schlicht unmöglich machen kann, Emotionen und Gedanken des Autisten zu erkennen.

 

Vorurteile abbauen:

Die Annahme, dass autistische Menschen nicht in der Lage sind, Empathie zu empfinden, ist ein Missverständnis, das sowohl aus der Komplexität des Empathiebegriffs als auch aus Kommunikationsunterschieden resultiert. Es ist wichtig, zu erkennen, dass Empathie auf unterschiedliche Weise erlebt und ausgedrückt werden kann und dass autistische Menschen oft tiefgehendes Mitgefühl empfinden, auch wenn es nicht immer auf herkömmliche Weise sichtbar ist. Die Fähigkeit zur Empathie ist bei Autismus zwar typischerweise beeinträchtigt, es existiert allerdings eine starke Bandbreite der empathischen Fähigkeiten unter den einzelnen Betroffenen. Die Akzeptanz dieser unterschiedlichen Formen von Empathie erfordert außerdem einen Perspektivenwechsel. Statt autistische Menschen nach neurotypischen Maßstäben zu bewerten, sollte die Gesellschaft bereit sein, ihre besonderen Stärken in der Wahrnehmung und ihrem Umgang mit Emotionen anzuerkennen. Dabei gilt es, Räume zu schaffen, in denen offene und klare Kommunikation gefördert wird und emotionale Bedürfnisse auf eine Weise artikuliert werden können, die für alle verständlich ist.

Frühförderung

Frühförderung spielt bei Kindern mit Autismus eine entscheidende Rolle. Sie zielt darauf ab, die Entwicklung in Bereichen wie Kommunikation, soziale Interaktion, Verhalten und Lernen zu unterstützen und optimale Bedingungen für die spätere Lebensqualität zu schaffen. Bei einer frühzeitigen Diagnose von Autismus kann eine individuell angepasste Frühförderung dazu beitragen, die Fähigkeiten und das Wohlbefinden von Kindern zu fördern und sie auf ihrem Weg zu einem möglichst selbstbestimmten Leben zu begleiten.

 

Was ist Frühförderung?

Frühförderung bezieht sich auf therapeutische, pädagogische und soziale Maßnahmen, die gezielt eingesetzt werden, um die Entwicklung von Kindern in den ersten Lebensjahren zu unterstützen. Sie wird in der Regel für Kinder bis zum sechsten Lebensjahr angeboten und umfasst sowohl medizinische als auch pädagogische Maßnahmen. Bei autistischen Kindern ist es besonders wichtig, möglichst früh mit der Förderung zu beginnen, um die spezifischen Herausforderungen, die der Autismus mit sich bringt, gezielt anzugehen.

 

Zu den Bereichen, die in der Frühförderung bei Autismus im Vordergrund stehen, gehören:

  • Kommunikation: Viele autistische Kinder haben Schwierigkeiten, sich verbal oder nonverbal auszudrücken. Eine gezielte Förderung hilft ihnen, Sprachfähigkeiten zu entwickeln oder alternative Kommunikationsmethoden, wie die Gebärdensprache oder Piktogramme, zu erlernen.

  • Soziale Interaktion: Autistische Kinder haben oft Probleme, soziale Signale zu verstehen oder auf diese zu reagieren. Durch Frühförderung lernen sie, soziale Fertigkeiten zu entwickeln, die ihnen helfen, besser mit anderen zu interagieren.

  • Verhalten: Verhaltensauffälligkeiten wie Stimming (selbststimulierende Verhaltensweisen) oder Wutausbrüche, die durch Überforderung entstehen, können durch eine frühzeitige Verhaltensintervention bearbeitet werden. Kinder lernen, mit ihren Emotionen umzugehen und alternative Verhaltensweisen zu entwickeln. Dabei geht es nicht darum, Stimming abzustellen oder zu verbieten!

  • Sensorische Integration: Autistische Kinder sind oft besonders empfindlich gegenüber sensorischen Reizen wie Geräuschen, Licht oder Berührungen. In der Frühförderung kann daran gearbeitet werden, sensorische Reize besser zu verarbeiten und mit sensorischer Überlastung umzugehen.

 

Die Bedeutung der frühen Diagnose:

Die Diagnose von Autismus im frühen Kindesalter ist ein zentraler Faktor, um die Frühförderung effektiv zu gestalten. Je früher Autismus erkannt wird, desto früher kann die Förderung ansetzen. In der Regel wird Autismus bei Kindern ab einem Alter von zwei bis drei Jahren diagnostiziert, wobei einige Symptome bereits im Säuglingsalter beobachtet werden können.

 

Ansätze in der Frühförderung:

Es gibt eine Vielzahl von Ansätzen, die in der Frühförderung autistischer Kinder Anwendung finden. Sie variieren je nach den individuellen Bedürfnissen des Kindes und können sowohl in spezialisierten Einrichtungen als auch im häuslichen Umfeld umgesetzt werden. Frühförderung ist meist interdisziplinär und setzt zudem auf eine starke Kommunikation zwischen Eltern und den Therapeuten und Pädagogen. Einige der am häufigsten verwendeten Methoden sind:

 

  • Verhaltenstherapie (ABA - Angewandte Verhaltensanalyse): ABA ist eine bewährte Methode, um autistischen Kindern zu helfen, gewünschte Verhaltensweisen zu erlernen und unerwünschte zu reduzieren. Sie basiert auf positiven Verstärkungen und zielt darauf ab, Fähigkeiten in Bereichen wie Kommunikation, Selbsthilfe und sozialen Interaktionen zu fördern. Diese Ansatz ist vor allem in den USA sehr populär und steht mittlerweile stark in der Kritik.

  • TEACCH-Ansatz (Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children): Dieser Ansatz konzentriert sich darauf, die Umgebung so zu gestalten, dass sie den Bedürfnissen autistischer Kinder gerecht wird. Durch visuelle Hilfsmittel, klare Strukturen und Routinen wird den Kindern geholfen, die Welt besser zu verstehen und sich in ihr zurechtzufinden.

  • Logopädie: Viele autistische Kinder haben Schwierigkeiten mit der Sprache. Logopädische Therapien setzen darauf, die sprachlichen Fähigkeiten zu entwickeln, sei es durch den Aufbau verbaler Kommunikation oder durch den Einsatz alternativer Kommunikationsmittel wie Bildkarten oder technische Hilfsmittel.

  • Ergotherapie: Ergotherapie hilft autistischen Kindern dabei, ihre Fein- und Grobmotorik sowie ihre sensorische Integration zu verbessern. Es geht darum, alltägliche Fähigkeiten zu entwickeln, die für die Selbstständigkeit wichtig sind.

  • Spieltherapie: In der Spieltherapie lernen autistische Kinder durch spielerische Aktivitäten, soziale Interaktionen zu verbessern und ihre emotionale Ausdrucksfähigkeit zu stärken. Es bietet ihnen eine sichere Umgebung, in der sie ihre Fähigkeiten auf natürliche Weise entwickeln können.

 

Die Rolle der Eltern und des Umfelds:

Eltern spielen eine zentrale Rolle in der Frühförderung. Sie sind die ersten Bezugspersonen des Kindes und verbringen den Großteil der Zeit mit ihm. Es ist wichtig, dass Eltern in den Förderprozess aktiv einbezogen werden und die Techniken und Strategien, die in der Frühförderung vermittelt werden, auch im Alltag anwenden können.

Frühförderung sollte nicht nur auf den formalen Therapie- oder Fördereinheiten basieren, sondern in das tägliche Leben des Kindes integriert werden. Routinen, klare Strukturen und Unterstützung im Alltag sind entscheidend, um den Fördererfolg zu maximieren. Zudem kann die Zusammenarbeit mit Fachleuten, wie Logopäden, Ergotherapeuten und Pädagogen, dabei helfen, die besten Ansätze für das Kind zu finden.

Auch das weitere soziale Umfeld – wie Großeltern, Erzieher oder andere Betreuungspersonen – sollte über den Förderbedarf informiert sein und die Maßnahmen unterstützen. Es ist wichtig, dass das Kind in einer Umgebung aufwächst, die Verständnis und Akzeptanz für seine Besonderheiten zeigt.

 

Langfristige Vorteile der Frühförderung:

Eine frühzeitige Förderung hat langfristig positive Auswirkungen auf die Entwicklung autistischer Kinder. Studien haben gezeigt, dass Kinder, die bereits in jungen Jahren gefördert werden, häufig bessere Fortschritte in der Sprachentwicklung, im sozialen Verhalten und in der Bewältigung des Alltags machen. Dies kann ihnen nicht nur dabei helfen, in der Schule und im späteren Leben erfolgreicher zu sein, sondern auch ihr emotionales Wohlbefinden stärken.

 

Die Förderung zielt darauf ab, dem Kind die besten Chancen für ein selbstbestimmtes Leben zu bieten. Selbst wenn einige Schwierigkeiten lebenslang bestehen bleiben, kann die Frühförderung den Umgang damit erleichtern und das Kind auf zukünftige Herausforderungen vorbereiten.

 

Herausforderungen in der Frühförderung:

Trotz der klaren Vorteile gibt es auch Herausforderungen, die bei der Frühförderung autistischer Kinder auftreten können. Diese beinhalten:

 

  • Individuelle Unterschiede: Kein autistisches Kind ist wie das andere, und was für ein Kind funktioniert, kann für ein anderes nicht zielführend sein. Es ist wichtig, die Förderung individuell anzupassen und flexibel auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen.

  • Zugang zu Ressourcen: In vielen Regionen ist der Zugang zu spezialisierter Frühförderung begrenzt. Eltern können auf lange Wartelisten stoßen oder keine spezialisierten Fachkräfte in ihrer Nähe finden. Hier kann es helfen, sich über Online-Ressourcen oder Selbsthilfegruppen zu vernetzen.

  • Finanzielle Belastung: Manche Förderprogramme sind mit hohen Kosten verbunden, die nicht immer von staatlichen Stellen oder Versicherungen übernommen werden. Es ist wichtig, dass Eltern über mögliche finanzielle Unterstützungsprogramme informiert sind.

Modediagnose

Autismus wird heute sehr viel häufiger diagnostiziert, als noch vor 20 Jahren. Tatsächlich haben sich die gestellten Autismusdiagnosen in diesem Zeitraum mehr als verzehnfacht. Dies bedeutet jedoch nicht automatisch, dass es sich bei diesen Diagnosen um Modediagnosen oder falsch-positive Diagnosen handeln muss.

 

Diese Tatsache, dass Autismus heute häufiger diagnostiziert wird, ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, die nicht mit einer tatsächlichen Zunahme der Fälle, sondern eher mit einer verbesserten Diagnostik und einem besseren Verständnis des Autismus-Spektrums zusammenhängen. Dazu zählen unter anderem:

 

  • Besseres Verständnis und breiteres Spektrum: In der Vergangenheit wurden viele autistische Menschen möglicherweise nicht diagnostiziert oder fälschlicherweise mit anderen Störungen diagnostiziert. Das Verständnis von Autismus hat sich erheblich erweitert, und heute wird Autismus als ein Spektrum verstanden, das eine Vielzahl von Ausprägungen und Schweregraden umfasst. Menschen mit weniger offensichtlichen Symptomen und einer hohen kognitiven Funktionsfähigkeit, wurden früher oft übersehen.

  • Erweiterte Diagnosekriterien: Die diagnostischen Kriterien für Autismus haben sich mit den überarbeiteten Auflagen des DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) und ICD-11 (International Classification of Diseases) verändert. Diese Veränderungen haben dazu geführt, dass mehr Menschen, insbesondere diejenigen mit weniger offensichtlichen Symptomen, diagnostiziert werden können.

  • Frühere Erkennung: Durch verbesserte Sensibilisierung von Eltern, Lehrern und Fachkräften im Gesundheitswesen wird Autismus bei Kindern und Erwachsenen schneller erkannt. Diagnosen im Kindesalter sind heute deutlich häufiger als früher.

  • Weniger Stigmatisierung: Das Stigma um psychische und neurologische Störungen hat in den letzten Jahrzehnten abgenommen. Dies führt dazu, dass mehr Menschen bereit sind, sich testen und diagnostizieren zu lassen, wenn sie Symptome von Autismus oder anderen Entwicklungsstörungen aufweisen.

  • Verbesserter Zugang zu Diagnosen und Unterstützung: Es gibt mehr Zugang zu Ressourcen, Diagnosediensten und Unterstützungssystemen für autistische Menschen. Das macht es wahrscheinlicher, dass Menschen, die früher keine Diagnose erhalten hätten, nun Hilfe suchen und erhalten können.

  • Diagnose von Autismus bei Frauen: Auch die Anerkennung und das Wissen um Autismus bei Frauen und Mädchen führt dazu, dass heute mehr Menschen diagnostiziert werden. Während man früher davon ausging, dass es sich bei Autismus um ein überwiegend männliches Phänomen handelt, schätzen Experten den Anteil von Frauen im Spektrum heute auf 30% oder höher.

 

Zusammengefasst spiegelt die Zunahme der Autismus-Diagnosen eher eine Verbesserung der Erkennung und des Verständnisses wider, nicht jedoch eine plötzliche Zunahme der Fälle. Der Begriff „Modediagnose“ deutet fälschlicherweise darauf hin, dass es sich um eine vorübergehende oder übertriebene Diagnose handelt, was dem wissenschaftlichen und medizinischen Konsens widerspricht. Experten wie Tom Harrendorf weisen jedoch darauf hin, dass eine hohe Dunkelziffer nicht-diagnostizierter Fälle und ein hoher Nachholbedarf hinsichtlich der Diagnose zum Beispiel bei Frauen einen gewissen Modetrend hinsichtlich Autismus nicht zwangsweise ausschließen. Millionenfache Abrufzahlen in den sozialen Medien wie Tiktok oder YouTube gingen weit über das hinaus, was an tatsächlichen Prävalenzraten für Autismus angenommen werde. Aus diesem Grund sei am ehesten davon auszugehen, dass es sich hinsichtlich der aktuellen Fallzahlen um ein Mischphänomen handele, bestehend aus einer tatsächlichen Dunkelziffer sowie einer Art Modetrend.

Masking

„Masking“ ist ein Begriff, der in den letzten Jahren im Zusammenhang mit Autismus immer häufiger verwendet wird. Er beschreibt die Anstrengungen von Menschen im Autismus-Spektrum, ihre autistischen Merkmale zu verbergen oder zu unterdrücken, um besser in die neurotypische Gesellschaft zu passen. Obwohl das Masking kurzfristig helfen kann, soziale Konflikte zu vermeiden, kann es langfristig zu erheblichen psychischen Belastungen führen.

 

Was ist Masking?

Masking, oft auch als „Camouflaging“ (Tarnung) bezeichnet, beschreibt die bewusste oder unbewusste Anpassung an das Verhalten neurotypischer Menschen. Personen mit Autismus verwenden Masking, um in sozialen Situationen weniger auffällig zu wirken, indem sie typische Verhaltensweisen imitieren oder ihre autistischen Eigenheiten unterdrücken. Dies kann zum Beispiel durch folgende Mechanismen geschehen:

 

  • Nachahmung von Mimik und Gestik: Viele autistische Menschen lernen, Augenkontakt zu halten oder zu lächeln, obwohl es für sie unangenehm oder unnatürlich ist.

  • Unterdrückung von Stimming: Stimming (stereotype Bewegungen wie Hände schütteln, Klopfen oder Wippen) wird oft als auffällig wahrgenommen, daher unterdrücken manche Autisten es in der Öffentlichkeit.

  • Überanpassung in sozialen Situationen: Autistische Menschen können bestimmte Phrasen oder soziale Skripte verwenden, um Gespräche „richtig“ zu führen, auch wenn sie sich dabei nicht authentisch fühlen.

  • Verbergen von Überforderungen: In sensorisch überwältigenden Umgebungen versuchen viele, ihre Reizüberflutung zu verbergen, anstatt diese offen zu kommunizieren.

 

Warum betreiben autistische Menschen Masking?

Der Hauptgrund, warum viele Menschen im Autismus-Spektrum Masking betreiben, ist der Wunsch nach sozialer Akzeptanz und der Vermeidung von Stigmatisierung. In einer Gesellschaft, die oft neurotypische Verhaltensweisen als Standard setzt, kann es für autistische Menschen eine Herausforderung sein, sich „einzufügen“. Viele erleben in ihrer Kindheit oder Jugend Ausgrenzung oder Mobbing und entwickeln das Masking als eine Art Schutzmechanismus.

 

Weitere Gründe, aus denen Menschen im Autismus Spektrum maskieren, können sein:

 

  • Soziale Erwartungen: Viele Menschen mit Autismus lernen früh, dass ihr Verhalten als „seltsam“ oder „unangemessen“ wahrgenommen wird. Masking kann eine Strategie sein, um negative Reaktionen von anderen zu vermeiden.

  • Anforderungen am Arbeitsplatz: In beruflichen Umgebungen kann es notwendig erscheinen, Masking zu betreiben, um als kompetent oder professionell angesehen zu werden.

  • Angst vor Ablehnung: Das ständige Gefühl, „anders“ zu sein, führt oft zu einem inneren Druck, die eigenen autistischen Züge zu verbergen, um sich nicht isoliert zu fühlen.

Obwohl Masking kurzfristig dazu führen kann, dass soziale Interaktionen reibungsloser verlaufen, kann es langfristig mit negativen Folgen für die psychische Gesundheit verbunden sein. Zu den typischen negativen Auswirkungen können gehören:

 

  • Erhöhte Erschöpfung und Burnout: Masking erfordert erhebliche mentale und emotionale Energie. Das ständige Überwachen des eigenen Verhaltens und das Anpassen an die Umgebung führen zu einer enormen Erschöpfung. Viele autistische Menschen berichten, dass sie nach einem Tag des Masking, etwa in der Schule oder bei der Arbeit, zu Hause zusammenbrechen oder sich sozial völlig zurückziehen müssen, um sich zu erholen. Auf lange Sicht kann diese dauerhafte Belastung zu einem Zustand führen, der als „Autistic Burnout“ bezeichnet wird. Dieser Zustand ist geprägt von tiefer Erschöpfung, reduzierten sozialen Fähigkeiten und einem verstärkten Rückzug aus dem sozialen Leben.

  • Verlust der eigenen Identität: Durch das ständige Anpassen und Verbergen ihrer wahren Persönlichkeit verlieren viele Menschen mit Autismus das Gefühl für ihre eigene Identität. Das Gefühl, immer eine „Maske“ tragen zu müssen, führt oft zu dem Eindruck, dass man nicht so akzeptiert wird, wie man wirklich ist. Dies kann sich in Selbstzweifeln, einem niedrigen Selbstwertgefühl und Identitätsproblemen äußern.

  • Depression und Angststörungen: Studien zeigen, dass Masking mit einem erhöhten Risiko für psychische Störungen wie Depressionen und Angstzustände verbunden ist. Der ständige Druck, sich anzupassen, sowie das Gefühl der sozialen Isolation, das aus dem Verbergen der eigenen Natur resultiert, können zu tiefgreifenden emotionalen Problemen führen. Besonders in sozialen Situationen kann die Angst vor „Enttarnung“ zu einem ständigen Gefühl der Unsicherheit und Furcht führen.

  • Schwierigkeiten bei der Diagnose: Masking kann die Diagnose von Autismus erschweren, insbesondere bei Frauen, die tendenziell häufiger Masking betreiben als Männer. Viele autistische Frauen erhalten ihre Diagnose erst spät im Leben, da sie gelernt haben, ihre Symptome so gut zu verbergen, dass sie nicht den typischen diagnostischen Kriterien entsprechen. Dies führt dazu, dass sie oft mit anderen Diagnosen wie Angststörungen oder Depression behandelt werden, ohne dass die zugrunde liegende Autismus-Spektrum-Störung erkannt wird.

 

Masking und Geschlecht — Unterschiede bei Männern und Frauen:

Es ist bekannt, dass Männer und Frauen das Masking unterschiedlich erleben. Frauen im Autismus-Spektrum betreiben Masking tendenziell häufiger und intensiver als Männer. Sie lernen oft schon in der Kindheit, soziale Verhaltensweisen zu imitieren und sich anzupassen. Dies führt dazu, dass Autismus bei Frauen oft lange unentdeckt bleibt, weil sie weniger offensichtlich „autistisch“ erscheinen. Die Forschung zeigt, dass Mädchen und Frauen im Autismus-Spektrum oft besondere soziale Strategien entwickeln, um Freundschaften aufrechtzuerhalten und soziale Ablehnung zu vermeiden. Dies mag kurzfristig erfolgreich sein, doch auf lange Sicht ist es häufig mit den bereits erwähnten negativen psychischen Folgen verbunden.

 

Laut einer Studie von Putten et al. aus dem Jahre 2024 maskieren autistische Menschen am meisten. Dabei maskieren sie sowohl mehr als Personen ohne #Autismus als auch Personen mit ADHS.

Schüchternheit

Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung werden oft als "schüchtern" beschrieben, wenn sie in sozialen Situationen zurückhaltend oder distanziert wirken. Doch Schüchternheit und Autismus sind zwei unterschiedliche Konzepte, die sich in ihren Ursachen und Auswirkungen grundlegend unterscheiden. Im ICD-11 (2024) heißt es hierzu: „Eine Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung sollte nur in Betracht gezogen werden, wenn eine deutliche und anhaltende Abweichung von der erwarteten Bandbreite an Fähigkeiten und Verhaltensweisen in diesen Bereichen vorliegt, wenn man das Alter, die intellektuelle Leistungsfähigkeit und den soziokulturellen Kontext der Person berücksichtigt. Manche Personen können aufgrund von Schüchternheit (d. h. Unbehagen oder Angstgefühle in neuen Situationen oder mit unbekannten Menschen) oder Verhaltenshemmung (d. h. langsames Aufgehen oder „Auftauen“ mit neuen Menschen und Situationen) eine eingeschränkte soziale Interaktion aufweisen. Eingeschränkte soziale Interaktionen bei schüchternen oder verhaltenshemmten Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen sind kein Hinweis auf eine Autismus-Spektrum-Störung. Schüchternheit wird von einer Autismus-Spektrum-Störung durch Anzeichen angemessener sozialer Kommunikationsverhalten in vertrauten Situationen unterschieden.“

 

Was ist Schüchternheit?

Schüchternheit ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das sich durch Zurückhaltung, Nervosität oder Unsicherheit in sozialen Interaktionen auszeichnet. Menschen, die als schüchtern gelten, haben oft Angst vor negativer Bewertung durch andere und neigen dazu, sich in unbekannten sozialen Situationen unwohl zu fühlen. Schüchternheit ist keine psychische Störung, sondern eine normale Variation menschlichen Verhaltens. Sie kann durch verschiedene Faktoren wie Erziehung, Umwelt und Lebenserfahrungen beeinflusst werden und ist oft situativ – sie tritt beispielsweise in neuen oder ungewohnten sozialen Umfeldern stärker auf. Schüchterne Menschen haben in der Regel den Wunsch, soziale Interaktionen zu führen, fühlen sich jedoch durch innere Ängste und Hemmungen blockiert. Sie könnten eine tiefere Verbindung zu anderen suchen, sind aber aufgrund ihrer Angst vor Ablehnung oder Peinlichkeit zögerlich, den ersten Schritt zu machen.

 

Obwohl es oberflächlich betrachtet so erscheinen mag, als seien Schüchternheit und Autismus ähnlich, gibt es wesentliche Unterschiede:

 

  • Ursache der Zurückhaltung: Schüchternheit entsteht oft durch soziale Angst oder das Bedürfnis, sich vor negativer Bewertung zu schützen. Autistische Zurückhaltung ist dagegen meist das Ergebnis einer neurobiologischen Andersartigkeit in der Verarbeitung sozialer Signale und dem mangelnden intuitiven Verstehen sozialer Interaktionen.

  • Der Wunsch nach sozialen Beziehungen: Schüchterne Menschen haben oft den Wunsch, soziale Kontakte zu knüpfen, fühlen sich jedoch blockiert. Menschen mit Autismus können diesen Wunsch haben, aber nicht unbedingt auf die gleiche Weise. Einige autistische Menschen haben wenig Interesse an engen sozialen Bindungen, während andere stark darunter leiden, dass sie es schwer finden, Freundschaften zu knüpfen.

  • Das Verständnis sozialer Regeln: Schüchterne Menschen verstehen in der Regel die sozialen Normen und Erwartungen, fühlen sich aber unsicher, wie sie sie erfüllen können. Autistische Menschen kämpfen oft mit dem Verstehen dieser Regeln selbst, was zu Missverständnissen und unbeabsichtigten sozialen Fauxpas führen kann.

 

Der Hauptgrund, warum Autismus häufig mit Schüchternheit verwechselt wird, liegt in der Art und Weise, wie sich autistische Menschen in sozialen Situationen verhalten. Sie wirken oft zurückhaltend oder uninteressiert, was bei neurotypischen Menschen leicht als Schüchternheit interpretiert werden kann. Doch während schüchterne Menschen aufgrund sozialer Unsicherheit oder Angst still und zurückhaltend sind, fühlen sich viele autistische Menschen einfach überfordert oder desinteressiert, ohne eine Angstkomponente.

 

Eine weitere Ursache, warum Menschen mit Autismus als schüchtern wahrgenommen werden, ist ihre Neigung, sich aus sozialen Situationen zurückzuziehen, wenn diese zu überwältigend werden. Autistische Menschen erleben oft sensorische Überlastung durch Geräusche, Licht oder Menschenmengen, was sie dazu bringt, soziale Interaktionen zu meiden oder sich zurückzuziehen. Dies wird manchmal als Schüchternheit interpretiert, obwohl der Rückzug in Wirklichkeit eine Form des Selbstschutzes ist.

 

Im Gegensatz zu schüchternen Menschen, die aufgrund von sozialen Ängsten vermeiden, sich zu engagieren, ziehen sich autistische Menschen oft zurück, weil sie sensorisch oder emotional überfordert sind. Diese Überforderung kann zu Meltdowns (emotionalen Zusammenbrüchen) oder Shutdowns (emotionaler Rückzug) führen, wenn sie gezwungen sind, in überwältigenden sozialen Umgebungen zu verbleiben.

 

Schüchternheit und Autismus: Was bedeutet das für die Diagnose?

Die Unterscheidung zwischen Schüchternheit und Autismus ist für eine genaue Diagnose von entscheidender Bedeutung. Da schüchterne Verhaltensweisen und autistische soziale Schwierigkeiten oberflächlich ähnlich erscheinen können, ist es wichtig, die tieferen Ursachen des Verhaltens zu erkennen. Während Schüchternheit vor allem eine emotionale Reaktion auf soziale Angst ist, sind autistische soziale Schwierigkeiten auf neurologische Unterschiede zurückzuführen. In der Diagnostik ist es entscheidend, nicht nur das Verhalten zu beobachten, sondern auch das zugrunde liegende Erleben der betroffenen Person zu verstehen. Bei Verdacht auf Autismus sollten diagnostische Fachkräfte gezielt nach den typischen Merkmalen von Autismus suchen, wie Schwierigkeiten mit nonverbaler Kommunikation, repetitive Verhaltensweisen und sensorische Empfindlichkeiten.

Meltdowns

Ein Meltdown ist eine intensive, emotionale Reaktion auf eine Situation, die von einer Person mit Autismus als überwältigend empfunden wird. Es handelt sich dabei nicht um einen Wutanfall oder bewusste Manipulation, sondern um eine unkontrollierte Stressreaktion. Während des Meltdowns kann die Person weinen, schreien, mit den Armen oder Beinen schlagen, sich zurückziehen oder sogar selbstverletzendes Verhalten zeigen. Oft wirkt die Person wie „außer sich“, was das Umfeld schnell hilflos oder irritiert zurücklässt.

 

Ursachen von Meltdowns:

Meltdowns entstehen durch eine Vielzahl von Faktoren, die eine Person mit Autismus überlasten können. Typische Auslöser sind:

 

  • Reizüberflutung: Menschen mit Autismus haben oft eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber sensorischen Reizen wie Licht, Geräuschen, Gerüchen oder Berührungen. Ein überfüllter Raum, laute Musik oder grelles Licht können schnell zur Überforderung führen.

  • Soziale Überforderung: Soziale Interaktionen sind für autistische Menschen häufig herausfordernd. Missverständnisse, nonverbale Signale und der Druck, sich an gesellschaftliche Normen anzupassen, können zu großem Stress führen.

  • Änderungen in der Routine: Menschen mit Autismus sind häufig auf feste Routinen angewiesen. Unerwartete Veränderungen, wie ein verschobener Zeitplan oder eine neue Umgebung, können große Unsicherheit und damit Stress auslösen.

  • Emotionale Überforderung: Intensive Gefühle wie Angst, Frustration oder Freude können ebenso einen Meltdown verursachen. Die Fähigkeit, Emotionen zu regulieren, ist bei Menschen mit Autismus oft anders ausgeprägt.

 

Symptome eines Meltdowns

Ein Meltdown kann sich auf verschiedene Weise manifestieren. Häufige Symptome sind:

 

Verstärkte Bewegung: Die Person könnte anfangen, sich schnell zu bewegen, zu rennen oder sich in die Ecken eines Raumes zurückzuziehen. Manche Personen beginnen zu schaukeln oder zu zittern.

Lautäußerungen: Schreien, Weinen oder andere laute Geräusche können als Ausdruck von Überforderung auftreten.

Aggression: In seltenen Fällen kann der Stress zu aggressiven Handlungen führen, sei es gegenüber anderen oder sich selbst.

Verweigerung der Kommunikation: Oft ziehen sich autistische Personen während eines Meltdowns in sich zurück und können nur schwer oder gar nicht kommunizieren.

 

Umgang mit einem Meltdown:

Den richtigen Umgang mit einem Meltdown zu finden, erfordert Empathie, Verständnis und Geduld. Folgende Strategien können hilfreich sein:

 

  • Ruhige Umgebung schaffen: Versuchen Sie, die Person in eine ruhige und reizarme Umgebung zu bringen. Entfernen Sie überflüssige visuelle oder auditive Reize, die die Überlastung verschlimmern könnten.

  • Nicht versuchen zu argumentieren: Während eines Meltdowns ist die betroffene Person oft nicht in der Lage, rationale Argumente zu verstehen oder zu verarbeiten. Versuchen Sie nicht, die Situation zu erklären oder sie zu ermahnen – das kann den Stress nur verstärken.

  • Beruhigende Worte und Verhalten: Sprechen Sie in einem ruhigen Ton und vermeiden Sie hastige Bewegungen. Manchmal reicht es aus, einfach in der Nähe zu sein, um Sicherheit zu vermitteln.

  • Sicherheit gewährleisten: Achten Sie darauf, dass die Person und ihr Umfeld sicher sind. Entfernen Sie potenziell gefährliche Gegenstände und lassen Sie die Person, falls nötig, in einem sicheren Raum ausagieren.

  • Nach dem Meltdown Unterstützung bieten: Nachdem der Meltdown abgeklungen ist, fühlt sich die betroffene Person oft erschöpft oder beschämt. Bieten Sie Unterstützung an, ohne Vorwürfe zu machen. Eine ruhige Reflexion darüber, was den Meltdown ausgelöst hat, kann helfen, ähnliche Situationen in der Zukunft zu vermeiden.

 

Präventive Maßnahmen:

Während Meltdowns nicht immer vollständig vermeidbar sind, gibt es Maßnahmen, die helfen können, sie seltener und weniger intensiv auftreten zu lassen:

 

  • Reizquellen reduzieren: Sorgen Sie für eine möglichst reizarme Umgebung, vor allem in sensiblen Momenten. Geräuschreduzierende Kopfhörer, Sonnenbrillen oder entspannende Rückzugsräume können helfen.

  • Feste Routinen etablieren: Menschen mit Autismus fühlen sich oft wohler, wenn sie klare Routinen haben. Diese geben ihnen Sicherheit und reduzieren Stress.

  • Kommunikationshilfen: Manche autistische Menschen haben Schwierigkeiten, ihre Bedürfnisse oder Gefühle auszudrücken. Unterstützende Kommunikationsmethoden wie visuelle Hilfsmittel oder Apps können helfen, Missverständnisse zu vermeiden.

  • Entspannungstechniken erlernen: Das Erlernen von Techniken wie Atemübungen, sensorische Stimulation oder das Anwenden von Druck (zum Beispiel durch Gewichtsdecken) kann in Stresssituationen helfen, die Selbstregulation zu verbessern.

Shutdowns

Neben den bekannteren Meltdowns gibt es im Zusammenhang mit Autismus auch sogenannte Shutdowns. Diese werden oft übersehen oder missverstanden, da sie weniger sichtbar und oft subtiler ablaufen. Ein Shutdown ist eine Rückzugsreaktion auf extreme Reizüberflutung oder Stress, bei der die betroffene Person sich innerlich „abschaltet“, um mit einer überwältigenden Situation umzugehen.

 

Was ist ein Shutdown?

Ein Shutdown ist eine Art von Schutzmechanismus, bei dem sich eine autistische Person geistig und körperlich zurückzieht, wenn sie von Reizen oder Stress überwältigt wird. Anders als bei einem Meltdown, bei dem es zu offensichtlichen und intensiven Reaktionen wie Weinen oder Schreien kommen kann, ist ein Shutdown oft nach innen gerichtet. Die betroffene Person zieht sich zurück, spricht möglicherweise nicht mehr, wirkt apathisch und kann Schwierigkeiten haben, auf äußere Reize zu reagieren. Shutdowns sind nicht willentlich steuerbar und es wird angenommen, dass sie dazu dienen, das Gehirn vor Überlastung zu schützen, indem es bestimmte nicht lebensnotwendige Funktionen „herunterfährt“. In dieser Phase scheint die Person auf „Standby“ zu gehen, um Energie zu sparen und sich vor weiteren Reizen zu schützen. Es sei allerdings angemerkt, dass Shutdowns nur wenig wissenschaftlich untersucht sind und es noch beträchtliche Unsicherheiten hinsichtlich dieses Konzeptes gibt, wenn es auch unstrittig zu sein scheint, dass Shutdowns im Kontext von Autismus existieren.

 

Die Auslöser für Shutdowns sind oft dieselben wie bei Meltdowns, aber die Reaktion ist eine andere. Folgende Faktoren können zu einem Shutdown führen:

  • Sensorische Überreizung: Menschen mit Autismus haben häufig eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber sensorischen Reizen wie Licht, Geräuschen oder Gerüchen. Eine überreizende Umgebung kann das Gehirn überfordern, was zu einem Shutdown führen kann.

  • Emotionale Überlastung: Stress, Angst oder starke Emotionen wie Frustration können autistische Personen ebenfalls überfordern. Sie ziehen sich innerlich zurück, um mit der emotionalen Flut besser umgehen zu können.

  • Soziale Erschöpfung: Zwischenmenschliche Interaktionen sind für Menschen mit Autismus oft sehr anstrengend. Längere soziale Interaktionen oder Konflikte können das Stressniveau erhöhen, bis die Person sich in einen Shutdown zurückzieht.

  • Kognitive Überforderung: Komplexe Aufgaben, schnelle Entscheidungsfindung oder eine unerwartete Änderung im Ablauf können das Gehirn überfordern, wodurch ein Shutdown ausgelöst wird.

 

Symptome eines Shutdowns:

Ein Shutdown kann sich auf unterschiedliche Weise äußern und ist oft schwerer zu erkennen als ein Meltdown, da die Reaktionen subtiler sind. Hier sind einige typische Anzeichen:

 

  • Rückzug und Inaktivität: Die betroffene Person zieht sich physisch oder emotional zurück. Sie könnte sich in eine Ecke setzen, aufhören zu sprechen oder sich komplett von der Situation distanzieren.

  • Kommunikationsverlust: Während eines Shutdowns kann es der Person schwerfallen, zu sprechen oder auf Anfragen zu reagieren. Dies kann sowohl verbale als auch nonverbale Kommunikation betreffen.

  • Bewegungsunfähigkeit: Einige Personen zeigen eine Art "Einfrieren", bei der sie still bleiben und sich kaum bewegen.

  • Mangel an Reaktion: Es kann sein, dass die betroffene Person auf äußere Reize wie Stimmen oder Berührungen nur minimal oder gar nicht reagiert.

  • Schläfrigkeit oder Erschöpfung: In manchen Fällen wirkt die Person extrem müde oder schläfrig, da der Shutdown-Prozess Energie spart und das Gehirn entlastet.

 

Umgang mit einem Shutdown:

Es ist wichtig, sensibel und unterstützend zu reagieren, wenn jemand einen Shutdown erlebt. Hier sind einige Strategien, die helfen können:

 

  • Ruhige Umgebung schaffen: Der wichtigste erste Schritt ist, die Person in eine reizarme, ruhige Umgebung zu bringen. Minimieren Sie Lärm, Licht und andere sensorische Reize.

 

  • Nicht drängen: Vermeiden Sie es, die betroffene Person zum Reden oder Reagieren zu zwingen. In einem Shutdown-Zustand kann es extrem schwierig oder unmöglich sein, zu kommunizieren. Geduld und Verständnis sind hier entscheidend.

  • Bedürfnis nach körperlicher Nähe einschätzen und respektieren: Manche Menschen benötigen während eines Shutdowns mehr Raum, andere finden Berührungen beruhigend. Beobachten Sie die Reaktion der Person und respektieren Sie ihre Bedürfnisse.

  • Zeit geben: Ein Shutdown kann eine Weile dauern. Es ist wichtig, der Person die Zeit zu geben, die sie braucht, um sich wieder zu sammeln. Drängen oder Eile können die Situation verschlimmern.

  • Rückkehr in die Normalität unterstützen: Wenn die Person aus dem Shutdown-Zustand herauskommt, ist es hilfreich, ihr sanft dabei zu helfen, wieder zu einem normalen Zustand zurückzukehren. Bieten Sie einfache, klare Anweisungen und positive Verstärkung an.

 

Prävention von Shutdowns

Wie bei Meltdowns gibt es Möglichkeiten, die Häufigkeit und Intensität von Shutdowns zu reduzieren. Dabei können helfen:

 

  • Regelmäßige Pausen: Autistische Menschen brauchen oft mehr Pausen und Rückzugszeiten als neurotypische Menschen. Diese Pausen helfen, Reizüberflutung und emotionale Erschöpfung zu vermeiden.

  • Reizkontrolle: Sensible Menschen mit Autismus können von Reizfiltern wie geräuschunterdrückenden Kopfhörern, Sonnenbrillen oder ruhigen Rückzugsorten profitieren, um ihre Umgebung zu kontrollieren.

  • Stressbewältigungstechniken: Atemübungen, sensorische Hilfsmittel oder meditative Techniken können helfen, bevor es zu einem Shutdown kommt.

  • Klare Strukturen und Routinen: Eine feste Tagesstruktur und klare, vorhersehbare Abläufe können Unsicherheit und Stress reduzieren, was wiederum die Wahrscheinlichkeit eines Shutdowns verringert.

  • Frühwarnzeichen erkennen: Es ist wichtig, die Anzeichen von Überforderung frühzeitig zu erkennen. Wenn eine Person stiller oder zurückgezogener wird, können das Hinweise auf eine bevorstehende Überlastung sein.

AutismusSpektrum.info

bottom of page